Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
Freund.« Kessler schob die Hand in die Tasche.
Die Nachricht, die Holcroft hinterlassen hatte, war nicht so, wie Erich es erwartet hatte. Noels Mutter sollte versteckt bleiben und eine Telefonnummer hinterlassen, wo ihr Sohn sie erreichen konnte. Sie erreichen konnte. Der Angestellte hatte natürlich geschworen, diese Nummer nicht preiszugeben, aber frühere Übereinkünfte hatten stets den Vorrang. Falls die Dame anrufen sollte, fände Herr Kessler die Nummer in seinem Fach vor.
»Mr. Kessler? Professor Erich Kessler?«
Ein Page, der seinen Namen rief, ging durch die Halle. Er rief ihn! Das war unmöglich . Niemand wußte, daß er hier war!
»Ja? Ja, ich bin Professor Kessler«, sagte er. »Was ist ?« Er war bemüht, leise zu sprechen, nicht aufzufallen.
»Ich soll die Nachricht mündlich übermitteln, Sir«, sagte der Page. »Der Herr, der angerufen hat, sagte, es sei keine Zeit, es aufzuschreiben. Es kommt von Mr. H. Er sagt, Sie sollen sich jetzt in Bewegung setzen.«
»Was?«
»Sonst hat er nichts gesagt, Sir. Ich habe selbst mit ihm gesprochen. Sie sollen sich jetzt in Bewegung setzen. Das sollte ich Ihnen sagen.«
Kessler hielt den Atem an. Plötzlich war ihm alles klar. Das hatte er nicht erwartet. Holcroft benutzte ihn als Köder.
Vom Standpunkt des Amerikaners aus wußte der Mörder des Mannes in der schwarzen Lederjacke in Berlin, daß Noel Holcroft mit Erich Kessler zusammengewesen war.
Eine einfache und doch geniale Strategie: Erich Kessler bloßzustellen, Erich Kessler eine Nachricht von Mr. H. empfangen zu lassen und zu veranlassen, daß Erich Kessler das Hotel verließ und in die finsteren Straßen von Genf hinausging.
Und wenn niemand ihm folgte, wäre das schwer zu erklären. So schwer, daß Holcroft seinen Köder vielleicht noch einmal ins Verhör nehmen würde. Dann konnten Fragen auftauchen, die ihren ganzen Plan in sich zusammenfallen lassen könnten.
Noel Holcroft war doch ein potentielles Sonnenkind.
40.
Helden kroch durch Gerhardts Haus, über die umgeworfenen Möbel und das Blut auf dem Boden, öffnete Schubladen und Schränke, bis sie schließlich eine kleine Blechkassette mit Verbandszeug fand. Verzweifelt bemüht, an nichts zu denken, als daran, wie sie ihre Bewegungsfähigkeit wiedergewinnen konnte, und dabei den Schmerz als einen unerwünschten Zustand ihres Bewußtseins verdrängend, verband sie ihre Wunde so straff sie konnte und richtete sich dann mühsam auf. Auf Gerhardts Stock gestützt, gelang es ihr, den Weg hinauf und die drei Kilometer bis zur Gabelung zu gehen.
Ein Bauer in einem alten Wagen nahm sie mit. Ob er sie zu einem gewissen Dr. Litvak auf dem Hügel in der Nähe der Klinik bringen könne?
Das konnte er. Es war kein großer Umweg für ihn.
Ob er sich bitte beeilen würde?
Walter Litvak war Ende der Vierzig, mit einer beginnenden
Glatze und klar blickenden Augen und mit der Angewohnheit, in kurzen, präzisen Sätzen zu sprechen. Er war schlank und bewegte sich schnell und vergeudete seine Kräfte ebensowenig wie seine Worte; da er hochintelligent war, stellte er Beobachtungen an, ehe er Antworten gab, und da er ein Jude war, den als Kind holländische Katholiken versteckt und den dann später mitfühlende Lutheraner erzogen hatten, hatte er gegenüber der Intoleranz keinerlei Toleranz.
Ein Vorurteil hatte er, und das war verständlich. Sein Vater und seine Mutter, zwei Schwestern und ein Bruder waren in Auschwitz in den Gaskammern gestorben. Wenn ihm nicht ein Schweizer Arzt von einem Bezirk in den Bergen von Neuchâtel erzählt hätte, dem ein Arzt fehlte, hätte Walter Litvak sein Leben im Kibbuz Har Sha’alav in der Negeb-Wüste verbracht.
Er hatte ursprünglich die Absicht gehabt, drei Jahre in der Klinik zu bleiben. Das lag jetzt fünf Jahre zurück. Und dann, nach ein paar Monaten in Neuchâtel, sagte man ihm, wer der Mann war, der ihn angeworben hatte: er gehörte einer Gruppe von Männern an, die gegen das Wiederaufleben des Nazismus kämpften. Sie wußten Dinge, die anderen Menschen unbekannt waren. Von Tausenden von erwachsenen Kindern — überall; und von unzähligen Millionen, die jene unbekannten Leute erreichen würden—überall. Es gab so viel nichtmedizinische Arbeit zu tun. Sein Kontaktmann war ein Mann namens Werner Gerhardt, und die Gruppe nannte sich >Abwehr<.
Walter Litvak blieb in Neuchâtel.
»Kommen Sie schnell herein«, sagte er zu Helden. »Lassen Sie sich von mir helfen. Ich habe hier eine kleine Praxis.«
Er
Weitere Kostenlose Bücher