Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
weit auseinanderliegenden Augen unter den gewölbten Brauen — waren ebenso straff, ebenso starr wie ihre Sitzhaltung. Ihre schmalen Lippen waren zusammengepreßt; ihr Atem ging gleichmäßig, aber jeder Atemzug war zu kontrolliert, zu tief, um normal zu sein. Sie las Heinrich Clausens Brief wie eine Statistik, die allem widersprach, was man bislang für unwiderlegbar gehalten hatte.
Auf der anderen Seite des Zimmers stand Noel an einem Fenster, das auf eine leicht gewellte Rasenfläche und Gärten
hinter dem Haus in Bedford Hills hinausging. Einige der Sträucher waren mit Rupfen abgedeckt; es lag’ Kälte in der Luft, und der morgendliche Frost hatte hie und da hellgraue Flecken ins grüne Gras gelegt.
Holcroft wandte sich um und sah seine Mutter an, gab sich Mühe, seine Furcht zu verbergen, das Zittern zu unterdrükken, das ihn immer wieder überkam, wenn er an die letzte Nacht dachte. Er durfte nicht zulassen, daß seine Mutter den Schrecken sah, den er fühlte. Er fragte sich, welche Gedanken ihr jetzt durch den Kopf gehen mochten, was für Erinnerungen die mit blauer Tinte geschriebenen Worte jetzt in ihr auslösten, Worte eines Mannes, den sie einmal geliebt und dann verachtet hatte. Was auch immer sie dachte, es bliebe so lange ihr ganz persönliches Eigentum, bis sie sich zum Reden entschloß. Althene teilte nur das mit, was sie mitteilen wollte.
Sie schien seinen Blick zu spüren und hob die Augen den seinen entgegen, aber nur kurz. Dann wandte sich ihr Blick wieder dem Brief zu, wobei sie eine Locke ihres grauen Haares zurückschob. Noel schlenderte auf den Schreibtisch zu, musterte die Bücherschränke und die Fotografien an der Wand. Der Raum spiegelte das Wesen seiner Besitzerin wider, dachte er. Graziös, ja elegant, und doch war da auch eine alles durchdringende Ausstrahlung von Aktivität. Die Fotos zeigten Männer und Frauen, die zu Pferde jagten, oder auf Segelbooten in rauhem Wetter, auf Skiern in den Bergen. Es war nicht zu leugnen: in diesem sehr femininen Zimmer war zugleich ein maskuliner Hauch zu verspüren. Es war das Arbeitszimmer seiner Mutter, ihr Allerheiligstes, in das sie sich zurückzog, wenn sie allein sein, wenn sie nachdenken wollte. Aber ebensogut hätte es einem Mann gehören können.
Er setzte sich in den Ledersessel vor ihrem Schreibtisch und zündete sich mit einem goldenen Kolibri eine Zigarette an, dem Abschiedsgeschenk einer jungen Dame, die vor einem Monat aus seinem Apartment ausgezogen war. Wieder zitterte seine Hand. Er hielt das Feuerzeug, so fest er konnte.
»Das ist eine schreckliche Angewohnheit«, sagte Althene, ohne den Blick vom Brief zu heben. »Ich dachte, du wolltest das Rauchen aufgeben.«
»Habe ich auch. Einige Male.«
»Das hat Mark Twain gesagt. Sei wenigstens originell.«
Holcroft setzte sich anders in dem Sessel zurecht, er fühlte sich verlegen. »Du hast den Brief jetzt einige Male gelesen. Was denkst du?«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte Althene und legte den Brief vor sich auf den Tisch. »Er ist von ihm; das ist seine Handschrift, seine Art, sich auszudrücken. Arrogant, selbst wenn er bereut.«
»Du bist also auch der Ansicht, daß das Reue ist?«
»Äußerlich jedenfalls. Ich würde gerne viel mehr wissen. Ich habe einige Fragen zu dieser außergewöhnlichen finanziellen Unternehmung. Das übersteigt alles Vorstellbare.«
»Fragen führen zu anderen Fragen, Mutter. Die Männer in Genf wollen das nicht. «
»Ist es wichtig, was die wollen? So, wie ich dich verstanden habe, wenn du auch darum herumredest, verlangen die, daß du mindestens sechs Monate deines Lebens opferst, wahrscheinlich sehr viel mehr.«
Wieder war Noel verlegen. Er hatte beschlossen, ihr das Dokument der Grande Banque nicht zu zeigen. Wenn sie hartnäckig darauf bestand, es zu sehen, konnte er es immer noch herausholen. Wenn nicht, dann war das besser so; je weniger sie wußte, desto besser. Er mußte sie vor den Männern der Wolfsschanze schützen. Er zweifelte nicht im geringsten daran, daß Althene sich störend einschalten würde.
»Ich halte mit nichts Wesentlichem hinter dem Berg«, sagte er.
»Das behaupte ich ja nicht. Ich habe nur gesagt, daß du um die Sache herumredest. Du beziehst dich auf einen Mann in Genf, dessen Rang und Namen du nicht nennen willst, du sprichst von Bedingungen, die du nur zur Hälfte verrätst, von den ältesten Kindern von zwei Familien, deren Namen du verschweigst. Du läßt eine ganze Menge aus.«
»In
Weitere Kostenlose Bücher