Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
einer der Adjutanten Ihres Mannes im Nebenzimmer wäre. Möchten Sie uns bekannt machen?«
»Er konnte nicht kommen.«
»Oh? Das tut mir leid. «
»Wirklich?«
Es war verrückt! Sie benahm sich wie eine Frau von Welt, die ihre gesellschaftliche Stellung vergessen hatte, oder wie eine teure Hure, die die Brieftasche eines neuen Kunden abschätzt. Sie beugte sich auf dem Sitzkissen vor und zupfte ein imaginäres Stäubchen von dem Läufer zu seinen Füßen weg. Die Geste war albern, und die Wirkung zu offensichtlich. Ihr Kleid öffnete sich oben und legte ihre Brüste frei. Es mußte ihr bewußt sein, was sie tat. Er mußte reagieren; sie erwartete es. Aber er würde nicht so reagieren, wie sie das meinte. Ein Vater hatte nach ihm gerufen; nichts durfte da stören. Nicht einmal eine unwahrscheinliche Hure.
Eine unwahrscheinliche Hure, die der Schlüssel zu Genf war.
»Mrs. Beaumont«, sagte er und stellte sein Glas umständlich auf das kleine Tischchen neben der Couch. »Sie sind eine sehr liebenswürdige Frau, und nichts täte ich lieber, als stundenlang hier sitzen und ein paar Drinks nehmen. Aber
wir müssen reden. Ich habe darum gebeten, Sie aufsuchen zu dürfen, weil ich außergewöhnliche Nachrichten für Sie habe. Es betrifft uns beide.«
»Uns beide?« sagte Gretchen und hob dabei das Fürwort hervor. »Um alles in der Welt, reden Sie, Mr. Holcroft. Ich bin Ihnen noch nie begegnet; ich kenne Sie nicht. Wie kann diese Nachricht uns beide betreffen?«
»Unsere Väter kannten einander vor vielen Jahren.«
Als das Wort >Väter< fiel, straffte sich die Haltung der Frau. »Ich habe keinen Vater.«
»Doch, den hatten Sie, und ich auch«, sagte er. »In Deutschland, vor über dreißig Jahren. Ihr Name ist von Tiebolt. Sie sind das älteste Kind von Wilhelm von Tiebolt. «
Gretchen atmete tief und wandte den Blick ab. »Ich glaube nicht, daß ich Ihnen noch länger zuhören möchte.«
»Ich weiß, wie Ihnen zumute ist«, erwiderte Noel. »Ich habe selbst genauso reagiert. Aber Sie haben unrecht. Ich hatte unrecht. «
»Unrecht?« fragte sie und wischte das lange blonde Haar weg, das ihr bei der schnellen Kopfbewegung über die Wange gefallen war. »Sie sind anmaßend. Vielleicht haben Sie nicht so gelebt, wie wir gelebt haben. Bitte, sagen Sie mir nicht, ich hätte unrecht. Dazu haben Sie keinen Anlaß.«
»Erlauben Sie mir nur, daß ich Ihnen sage, was ich erfahren habe. Wenn ich fertig bin, können Sie Ihre eigene Entscheidung treffen. Das Wichtige ist, daß Sie es wissen. Und natürlich Ihre Unterstützung.«
»Unterstützung wessen? Daß ich was weiß?«
Noel fühlte sich seltsam bewegt, als wäre das, was er jetzt sagen würde, die wichtigste Aussage seines Lebens. Bei einem normalen Menschen würde die Wahrheit genügen, aber Gretchen Beaumont war kein normaler Mensch; ihre Narben lagen sichtbar zutage. Es würde mehr als die Wahrheit erfordern; es erforderte ungeheures Überzeugungsvermögen.
»Vor zwei Wochen flog ich nach Genf, um mich mit einem Bankier namens Manfredi zu treffen.«
Er schilderte ihr alles, ließ nichts aus, nur die Männer der Wolfsschanze. Er schilderte es ihr in einfachen, aber beredten
Worten, hörte die Überzeugung in der eigenen Stimme, spürte die tiefe Verpflichtung, die aus ihm sprach, den aufwühlenden Schmerz in seiner Brust.
Er nannte ihr die Zahlen: siebenhundertundachtzig Millionen für die Überlebenden des Massenmords und die Nachkommen jener Überlebenden, die noch Not litten. Überall. Zwei Millionen für jedes der überlebenden ältesten Kinder der drei Männer. Sechs Monate - möglicherweise länger - gemeinsamen Einsatzes.
Schließlich erzählte er ihr von dem gemeinsamen Freitod der drei Väter, nachdem jede Einzelheit in Genf geregelt und besiegelt war.
Als er geendet hatte, spürte er, wie ihm der Schweiß über die Stirne rann. »Jetzt liegt es bei uns«, sagte er. »Und bei einem Mann in Berlin - Kesslers Sohn. Wir drei müssen das zu Ende führen, was sie begonnen haben.«
»Es klingt so unglaublich«, sagte sie leise. »Aber ich kann wirklich nicht erkennen, weshalb das mich betreffen sollte.«
Ihre Ruhe, ihr völliger Gleichmut verblüfften ihn. Sie hatte ihm fast eine halbe Stunde lang schweigend zugehört, hatte sich Enthüllungen angehört, die für sie erschütternd waren, und doch zeigte sie keinerlei Reaktion. Nichts. »Haben Sie denn kein Wort von dem, was ich sagte, verstanden?«
»Ich verstehe, daß Sie sehr erregt sind«, sagte
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