Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
unerhört. Wie können sie denn zu einem solchen Schluß kommen?«
Noel wiederholte die wichtigsten Punkte, die MI-5 ihm dargelegt hatte.
»Mein Gott«, sagte Helden. »Er bereist ganz Europa und den Nahen Osten! Natürlich könnten die Engländer sich bei seiner Redaktion erkundigen. Er wählt doch die Orte nicht aus, an die man ihn schickt. Das ist lächerlich!«
»Journalisten, die interessante Berichte schreiben, Berichte, die die Auflagen steigern, haben weitgehend freie Hand, wenn es um ihre Einsatzorte geht. Das ist bei Ihrem Bruder der Fall. Es ist tatsächlich so, als hätte er gewußt, daß er sich den Namen machen würde, von dem Sie sprachen; als hätte er gewußt, daß man ihm in wenigen kurzen Jahren die Freiheit gewähren würde, die er braucht.«
»Das glauben Sie doch selber nicht.«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte Holcroft. »Ich weiß nur, daß Ihr Bruder die Situation in Genf gefährden könnte. Die bloße Tatsache, daß MI-5 ihn verdächtigt, könnte schon ausreichen, um den Bankiers Angst zu machen. Sie wollen nicht, daß man ein Auge auf sie hat, soweit es um das Clausen-Konto geht. «
»Aber das ist nicht gerechtfertigt!«
»Sind Sie sicher?«
Heldens Augen blickten zornig. »Ja, ich bin sicher. Johann mag alles mögliche sein, aber ein Mörder ist er nicht. Jetzt fängt die Gemeinheit wieder an. Man jagt das Kind eines Nazi.«
Noel erinnerte sich an das, was der MI-5-Mann gesagt hatte: Über seinen Vater wissen Sie ja zunächst einmal Bescheid ... War es möglich, daß Helden recht hatte? Rührte der Verdacht von MI-5 aus Erinnerungen und Feindseligkeiten, die dreißig Jahre zurückreichten, zu einem brutalen Feind? Tennyson ist die Arroganz in Person ... Das war möglich.
»Ist Johann politisch engagiert?«
»Sehr, aber nicht im üblichen Sinne. Er ist keiner bestimmten
Ideologie verpflichtet. Statt dessen betrachtet er sie alle sehr kritisch. Er greift ihre Schwächen an und wird besonders böse, wenn er auf Heuchelei stößt. Deshalb können ihn viele Leute in Regierungskreisen nicht leiden. Aber er ist kein Meuchelmörder!«
Wenn Helden recht hatte, dachte Noel, dann könnte Johann von Tiebolt für Genf sehr nützlich sein. Oder, um es genauer zu sagen, für die Agentur, die in Zürich etabliert werden sollte. Ein mehrsprachiger Journalist, auf dessen Urteil man hörte, der in finanziellen Dingen erfahren war, könnte sich als hervorragend qualifiziert erweisen, in der ganzen Welt Millionen zu verteilen.
Wenn es gelang, den Schatten des Tinamu von Johann von Tiebolt zu lösen, dann gab es keinen Grund, daß die Direktoren der Grande Banque de Genève je vom Interesse des MI-5 für John Tennyson erfuhren. Das zweite Kind Wilhelm von Tiebolts wäre für die Bankiers sofort akzeptabel. Möglich, daß Johann nicht der allersympathischste Mensch war, aber schließlich ging es Genf ja auch nicht um einen Sympathiewettbewerb. Er könnte außerordentlich nützlich sein. Zuerst mußte unbedingt der Schatten des Tinamu verscheucht, mußte der Argwohn des britischen Geheimdienstes zerstreut werden. Holcroft lächelte. Eines Tages kommt ein Mann und spricht von einer seltsamen Abmachung ... Johann von Tiebolt — John Tennyson — wartete auf ihn!
»Was ist denn so komisch?« fragte Helden, die ihn beobachtet hatte.
»Ich muß ihn kennenlernen«, antwortete Noel, ohne auf die Frage einzugehen. »Können Sie das arrangieren?«
»Ich denke schon. Es wird aber ein paar Tage dauern. Ich weiß nicht, wo er ist. Was werden Sie ihm sagen?«
»Die Wahrheit; vielleicht revanchiert er sich. Ich habe so ein Gefühl, daß er über Genf informiert ist.«
»Er hat mir einmal eine Telefonnummer gegeben für den Fall, daß ich ihn je brauchen würde. Ich habe die Nummer nie benutzt. «
»Benutzen Sie sie jetzt. Bitte.«
Sie nickte. Noel begriff, daß es Fragen gab, die noch nicht beantwortet waren. Besonders Fragen, die einen Mann namens
Beaumont betrafen, und ein Ereignis in Rio de Janeiro, über das Helden nicht sprechen wollte. Ein Ereignis, das in Verbindung zu dem Marineoffizier mit den dichten, schwarzweiß gesprenkelten Augenbrauen stand. Es war möglich, daß Helden nichts über diese Verbindung wußte.
Vielleicht wußte John Tennyson etwas. Jedenfalls wußte er viel mehr als er seinen Schwestern sagte.
»Versteht Ihr Bruder sich mit Beaumont?« fragte Holcroft.
»Er verachtet ihn. Er hat es abgelehnt, an Gretchens Hochzeit teilzunehmen.«
Was war der Grund? fragte
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