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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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Rothaarigen und dem aus der Kutte gesprungenen Pfarrer. Und dennoch sah er auf dem Trottoir, wo er gerade ging, eine hochgewachsene Frau mit einem Stock auf sich zukommen. Von weitem erkannte er sie, obwohl er ihr seit dreißig Jahren nicht begegnet war: die Frau, die laut Geburtsurkunde seine Mutter war. Sie hatte keine roten Haare mehr, sondern weiße. Sie trug einen militärisch geschnittenen, flaschengrünen Regenmantel, Bergschuhe und vorne eine Art Quersack, der an einem Riemen über der Schulter hing. Sie ging mit festem Schritt. Offenbar brauchte sie den Stock gar nicht, der auch eher aussah wie ein Alpenstock.
    Auch sie erkannte ihn. Er hatte auf der Höhe des früheren Café Fraysse haltgemacht und schaute ihr in die Augen, wie versteinert, als stehe er vor einer Gorgo. Sie musterte ihn, mit vorgerecktem Kinn, herausfordernd. Sie überschüttete ihn mit einem Schwall von Beschimpfungen in einer gutturalen Sprache, die er nicht verstand. Sie hob ihren Stock und versuchte ihn auf den Kopf zu schlagen. Doch er war zu groß, der Stock traf seine Schulter und verursachte einen schneidenden Schmerz.
    Er wich zurück. Die Eisenspitze berührte seinen Hals. Sie stützte sich jetzt auf den Stock, sehr steif, das Kinn immer noch arrogant, und starrte auf ihn mit ihren Augen, die Bosmans viel kleiner vorkamen und härter als früher.
    Er trat höflich zur Seite, um sie vorbeizulassen.
    »Madame …«
    Sie rührte sich nicht. Mit herrischer Geste streckte sie ihm die weit geöffnete Hand entgegen. Aber Bosmans hatte kein Geld.
    Er setzte seinen Weg fort. Auf der Höhe des Squares bei der Rue Mazarine angekommen, drehte er sich um. Dort hinten stand sie immer noch reglos da, beobachtete ihn in hochmütiger Pose. Er fuhr sich mit einer Hand über den Hals und spürte Blut an seinen Fingerspitzen. Der Stock hatte ihn verletzt. Mein Gott, wie lächerlich mit der Zeit alles erscheint, was uns früher einmal gequält hat, und wie lächerlich auch diese Leute werden, die Zufall oder böses Geschick einem aufgezwungen hatten in der Kindheit oder in der frühen Jugend, und auf der Geburtsurkunde. Am Ende war von all dem bloß noch so etwas wie eine alte deutsche Bergsteigerin übrig, mit ihrer flaschengrünen Uniform, ihrem Quersack und ihrem Alpenstock, dort hinten auf dem Trottoir. Bosmans lachte laut. Er überquerte den Pont des Arts und trat in den Hof des Louvre.
    Als Kind hatte er hier gespielt, viele Nachmittage lang. Das Polizeirevier dort drüben rechts, ganz hinten in der großen Cour Carrée, dieses Revier, das ihm solche Angst einjagte, die Polizisten vor dem Eingang, die dastanden wie Zollbeamte auf der Schwelle eines Grenzübergangs, das alles existierte nicht mehr. Er ging einfach geradeaus. Es war finster geworden. Schon bald kam er zum Anfang der kleinen Rue Radziwill, an die Ecke, wo er auf Margaret Le Coz gewartet hatte, wenn sie in einer Außenstelle von Richelieu Interim arbeitete. Sie saß allein im Büro dieser Außenstelle, und sie war wirklich erleichtert, Mérovée und die anderen nicht mehr »auf der Pelle« zu haben – wie sie sich ausdrückte. Sie misstraute ihnen, besonders Mérovée und dem Büroleiter, der Brünette mit dem Bulldoggenschädel. Eines Tages, als Bosmans gefragt hatte, worin die Arbeit bei Richelieu Interim genau bestehe, hatte sie gesagt:
    »Weißt du, Jean, sie haben Beziehungen zur Polizeipräfektur.«
    Aber sie hatte sich gleich korrigiert:
    »Ach, es ist eine Verwaltungsarbeit … Ungefähr so wie bei einem Zulieferer …«
    Er wagte ihr nicht einzugestehen, dass er keine Ahnung hatte, was »Zulieferer« bedeutete, und außerdem spürte er, dass sie sich lieber nur vage äußern wollte. Dennoch hatte er gefragt:
    »Warum zur Polizeipräfektur?«
    »Ich glaube, dass Mérovée und die anderen ein bisschen für die Polizeipräfektur arbeiten … Aber das geht mich nichts an … Sie verlangen von mir nur, dass ich Berichte abtippe und übersetze, für sechshundert Franc im Monat … Alles übrige …«
    Bosmans hatte das Gefühl, sie erzähle ihm diese paar Details, wie um sich zu rechtfertigen. Er hatte einen letzten Versuch gemacht:
    »Aber was ist eigentlich Richelieu Interim?«
    Sie hatte die Schultern gezuckt.
    »Ach … so eine Art Kanzlei für Streitsachen …«
    Er wusste nicht, was »Streitsachen« bedeutete, genausowenig wie »Zulieferer«. Und er hatte überhaupt keine Lust, es erklärt zu bekommen. Auf jeden Fall, hatte sie gesagt, hoffe ich, bald

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