Der Horizont: Roman (German Edition)
stumm.
»Na, dann eben nicht.«
Er ging zu Margaret, die am Treppenabsatz stand. Sie war sehr blass.
»Nun?«
»Er ist es nicht.«
Sie saßen nebeneinander auf einer der Bänke und warteten auf die Metro. Er bemerkte, dass Margarets Hände leicht zitterten.
»Warum hast du solche Angst vor ihm?«
Sie antwortete nicht. Er bedauerte, dass dieser Mann nicht Boyaval war. Er hatte gehofft, die Sache ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Es war idiotisch, diese Bedrohung, die in der Luft hing, dieser gegenwärtige, aber unsichtbare Typ, der sie in Schrecken versetzte, ohne dass sie ihm genau sagte warum. Er hatte vor nichts Angst. Zumindest versicherte er das Margaret ständig, um sie zu beruhigen. Wenn man sich seit der Kindheit mit der Rothaarigen und dem aus der Kutte gesprungenen Pfarrer herumgeschlagen hatte, ließ man sich von niemandem beeindrucken. Das sagte er Margaret wieder einmal, da, auf der Metrobank. Er wollte sie ablenken und beschrieb ihr das Paar, dem er noch immer, zufällig an einer Straßenecke, die Stirn bieten musste: der Mann mit seinem kurzen Bürstenschnitt, den hohlen Wangen, dem Inquisitorenblick; die Frau mit dem tragischen Kinn, immer gleich herablassend in ihrer afghanischen Jacke … Sie hörte ihm zu und lächelte schließlich. Er sagte ihr noch, das alles sei nicht besonders wichtig, weder diese beiden Gestalten, die ihn mit ihrer Feindseligkeit verfolgten, ohne dass er begriff warum, und jedesmal Geld von ihm forderten, noch Boyaval, noch sonstwas. Von einem Tag auf den anderen konnten sie Paris verlassen, auf der Suche nach neuen Horizonten. Sie waren frei. Sie nickte, als habe er sie überzeugt. Sie blieben auf der Bank sitzen und ließen die Metrozüge vorbeifahren.
J emand hatte ihm im Schlaf einen Satz zugeflüstert: Fernes Auteuil, bezauberndes Viertel meiner großen Traurigkeiten, und er schrieb ihn in sein Notizbuch, denn er wusste nur allzugut, dass gewisse Worte, die man im Traum hört und die einen verblüffen und die man sich merken will, beim Erwachen entschwunden sind oder keinen Sinn mehr haben.
Er hatte in jener Nacht von Margaret Le Coz geträumt, was selten geschah. Sie saßen zu zweit an einem Tisch in der Bar von Jacques dem Algerier, am Tisch gleich neben der Eingangstür, und diese stand zur Straße hin weit offen. Es war an einem späten Sommernachmittag, und Bosmans schien die Sonne in die Augen. Er fragte sich, ob er sein heutiges Gesicht hatte oder das des Einundzwanzigjährigen. Sicher das Gesicht des Einundzwanzigjährigen. Sonst hätte sie ihn komisch angeschaut und nicht erkannt. Alles war in klares Licht getaucht, wegen der zur Straße hin offenstehenden Tür. Ein paar Worte fielen ihm ein, wahrscheinlich der Titel eines Buches: Die Tür in den Sommer. Und doch hatte er Margaret Le Coz im Winter kennengelernt, in einem sehr kalten Winter, der ihm endlos erschienen war. Die Bar von Jacques dem Algerier war ein Zufluchtsort, wo man Schutz findet vor Schneestürmen, und er konnte sich nicht erinnern, mit Margaret im Sommer dort gewesen zu sein.
Er stellte ein merkwürdiges Phänomen fest: Dieser Traum erhellte durch sein Licht alles, was Wirklichkeit gewesen war, die Straßen, die Menschen, mit denen Margaret und er gemeinsam in Berührung gekommen waren. Und wenn dieses Licht nun das wahre Licht gewesen war, jenes Licht, das sie beide damals umstrahlte? Warum hatte er dann in jener Zeit die zwei Hefte vollgeschrieben mit einer kleinen Schrift, die ein Gefühl von Beklemmung und Ersticken verriet?
Er glaubte, die Antwort zu finden: Alles, was man tagaus, tagein erlebt, ist gekennzeichnet von den Ungewissheiten der Gegenwart. Zum Beispiel fürchtete sie, an jeder Straßenecke auf Boyaval zu stoßen, und Bosmans, auf das bedrohliche Paar, das ihn mit seiner Verachtung und seiner Feindseligkeit verfolgte – ohne dass er begriff warum – und gern seine Taschen durchstöbert hätte, wenn er da, auf der Straße, gestorben wäre, mit einer Kugel im Herzen. Doch aus der Ferne betrachtet, mit dem Abstand der Jahre, sind die Ungewissheiten und Ängste, die man in einem bestimmten Augenblick durchgestanden hat, verflogen wie das Rauschen, das einen hinderte, im Radio kristallklare Musik zu hören. Ja, wenn ich jetzt daran zurückdenke, dann war es genau wie im Traum: Margaret und ich, die einander gegenübersitzen in einem reinen und zeitlosen Licht. Das hatte uns übrigens auch der Philosoph erklärt, dem wir eines Abends in Denfert-Rochereau begegnet
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