Der Horizont: Roman (German Edition)
waren. Er sagte:
»Die Gegenwart ist immer voller Ungewissheiten, hm? Man fragt sich beklommen, wie die Zukunft aussehen wird, hm? Und dann vergeht die Zeit, und diese Zukunft wird Vergangenheit, hm?«
Und während er sprach, unterstrich er die Sätze durch dieses immer schmerzvollere Geächze.
Als er sie gefragt hatte, warum sie sich ein Zimmer in diesem entlegenen Viertel von Auteuil gesucht hatte, war ihre Antwort gewesen:
»Hier ist es sicherer.«
Auch er hatte sich fast in die Peripherie geflüchtet, ganz ans Ende der Rue de la Tombe-Issoire, um dem aggressiven Paar zu entrinnen, das ihn verfolgte. Doch sie hatten die Adresse herausgefunden, und seine Mutter war eines Abends gekommen und hatte mit der Faust gegen seine Zimmertür geschlagen, während der Mann unten auf der Straße wartete. Am nächsten Tag war ihm das Viertel um die Rue de la Tombe-Issoire und den Parc Montsouris nicht mehr so sicher erschienen wie erhofft. Er drehte sich um, bevor er das Gebäude betrat, und wenn er die Treppe hinaufging, hatte er Angst, die zwei Gestalten könnten am Ende des Flurs, vor seiner Zimmertür, auf ihn warten. Und dann, nach ein paar Tagen, dachte er nicht mehr daran. Er hatte ein anderes Zimmer gefunden, im selben Viertel, Rue de l’Aude. Zum Glück kann man sich auch, wie der Philosoph sagte, auf die Unbekümmertheit der Jugend verlassen, hm? Es gab sogar Sonnentage, an denen Margaret ihn nicht mehr mit furchtsamen Augen betrachtete.
Fernes Auteuil … Er studierte den kleinen Paris-Plan auf den letzten beiden Seiten des Notizbuchs aus Moleskin. Er hatte sich immer vorgestellt, er könnte in den hintersten Winkeln gewisser Viertel die Personen wiederfinden, denen er in seiner Jugend begegnet war, mit ihrem Alter und ihrem Aussehen von einst. Sie führten dort ein Parallelleben, gefeit gegen die Zeit … In den geheimen Ecken jener Viertel lebten Margaret und die anderen immer noch so, wie sie damals waren. Um bis zu ihnen vorzudringen, musste man versteckte Wege durch Gebäude kennen, Straßen, die auf den ersten Blick aussahen wie Sackgassen und auf dem Plan nicht eingezeichnet waren. Im Traum wusste er, wie er über eine bestimmte Metrostation dahin gelangte. Doch beim Erwachen verspürte er kein Bedürfnis, das ganze im wirklichen Paris nachzuprüfen. Oder vielmehr, er wagte es nicht.
Eines Abends hatte er auf Margaret gewartet, in der Avenue de l’Observatoire, an den Gitterzaun des Parks gelehnt, und dieser Augenblick war losgelöst von den anderen, festgehalten in der Ewigkeit. Warum an jenem Abend in der Avenue de l’Observatoire? Doch rasch bewegte sich das Bild von neuem, der Film lief weiter, und alles war einfach und logisch. Es war der erste Abend, an dem sie zu Professor Ferne ging. Von Auteuil aus hatten sie die Metro bis Montparnasse-Bienvenüe genommen. Wieder in der Stoßzeit. Und darum waren sie den Rest des Weges lieber zu Fuß gegangen. Sie war viel zu früh dran für ihre Verabredung. Die Jahreszeiten verschmolzen ineinander. Es musste noch im Winter gewesen sein, kurz nach Margarets Zwischenspiel in den Büros der Rue Radziwill. Und dennoch, als sie vor dem Park des Observatoriums standen, so schien es Bosmans mit vierzig Jahren Abstand, war es ein Frühlings- oder Sommerabend. Das Laub der Bäume bildete ein Dach über dem Trottoir, auf dem sie dahinschlenderten, Margaret und er. Sie hatte zu ihm gesagt:
»Du kannst mitkommen.«
Doch er fand, das mache keinen seriösen Eindruck. Nein, er wollte gegenüber von dem Haus warten, wo dieser Professor Ferne wohnte. Er schaute auf die Fassade. In welchem Stock war Professor Ferne? Sicher da, wo eine Reihe Fenstertüren hell leuchtete. Den Rücken am Gitterzaun des Squares, dachte er, von diesem Abend an würde ihr Leben vielleicht in neuen Bahnen verlaufen. Hier war alles friedlich und beruhigend, das Laub der Bäume, die Stille, die Fassade des Gebäudes, über dessen Eingang Löwenköpfe prangten. Und diese Löwen schienen Wache zu halten und Bosmans mit verträumter Miene anzublicken. Eine der Fenstertüren würde aufgehen, und man würde Klavierspiel hören.
Als sie aus dem Haus gekommen war, hatte sie gesagt, es sei alles in Ordnung. Sie hatte die Frau des Professors gesehen. Sie müsse sich nicht ständig um die Kinder kümmern, sondern bloß an drei Tagen in der Woche. Die Frau des Professors hatte ihr erklärt, es handle sich nicht wirklich um eine Stelle als Gouvernante. Nein. Sie wäre eher eine Art Au-pair-Mädchen, mit
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