Der Horizont: Roman (German Edition)
Viertel von Paris gehen.
»Also … fürchtest auch du, gewissen Leuten zu begegnen?«
»Stell dir ein Paar so um die Fünfzig vor«, hatte Bosmans zu ihr gesagt. »Eine Rothaarige mit hartem Blick und ein Brünetter, der aussieht wie ein aus der Kutte gesprungener Pfarrer. Die Rothaarige ist meine Mutter, wenn ich meiner Geburtsurkunde glauben darf.« In seiner Jugend, wenn Bosmans sich in die Rue de Seine und Umgebung wagte und ihm das Unglück widerfuhr, diesem Paar zu begegnen, dann geschah immer das gleiche: Seine Mutter kam mit aggressiv vorgerecktem Kinn auf ihn zu und verlangte Geld, im autoritären Ton von jemandem, der ein Kind zurechtweist. Der Brünette stand abseits, reglos, und musterte ihn streng, als solle er sich für sein Dasein schämen. Bosmans wusste nicht, warum diese beiden Menschen ihm so viel Verachtung entgegenbrachten. Er wühlte in seiner Tasche und hoffte, ein paar Geldscheine zu finden. Er hielt sie seiner Mutter entgegen, und diese steckte sie mit unwirscher Geste ein. Die beiden entfernten sich, sehr steif und sehr würdevoll, der Mann mit der Haltung eines Toreros. Und Bosmans blieb gerade noch so viel, dass er sich eine Metrofahrkarte kaufen konnte.
»Aber warum gibst du ihnen Geld?«
Sie schien irritiert durch das, was Bosmans ihr gerade erzählt hatte.
»Ist das wirklich deine Mutter? Hast du keine anderen Verwandten?«
»Nein.«
Für eine Weile hatte sie diesen Mann vergessen, von dem sie fürchtete, er könnte eines Abends auf sie warten, vor dem Haus.
»Du siehst, keiner ist vor unangenehmen Begegnungen sicher«, hatte Bosmans erklärt.
Und er hatte noch hinzugefügt, das Paar habe schon mehrmals an die Tür seines Zimmers im vierzehnten Arrondissement geklopft, um Geld zu fordern. Ein einziges Mal hatte er ihnen nicht aufgemacht. Aber sie waren etwas später wieder erschienen. Der Mann wartete auf der Straße, immer schwarz gekleidet, mit stolzer Kopfhaltung. Seine Mutter war heraufgekommen und hatte mit kalter Stimme Geld verlangt, als spreche sie zu einem Mieter, der schon lange seine Miete schuldig geblieben war. Vom Fenster aus hatte er gesehen, wie sich die beiden auf der Straße entfernten, immer gleich steif und gleich würdevoll.
»Zum Glück bin ich umgezogen. Jetzt können sie mich nicht mehr erpressen.«
An jenem Abend hatte er ihr weitere Fragen gestellt. Sie hatte nichts mehr gehört von dem Typen, seit sie bei Richelieu Interim arbeitete. Auch sie war umgezogen, damit er ihre Spur verliere. Bevor sie in dieses Zimmer nach Auteuil gekommen war, hatte sie in mehreren Hotels im Umkreis der Place de l’Étoile gewohnt, eines davon in der Rue Brey. Und da hatte er sie schließlich wiedergefunden. Sie war mitten in der Nacht aus diesem Hotel geflohen, ohne auch nur ihren Koffer zu packen.
»Dann hast du ja nichts zu befürchten«, hatte Bosmans gesagt. »Bestimmt steht er dort und hält Wache bis ans Ende aller Zeiten.«
Sie war in Lachen ausgebrochen, was Bosmans beruhigt hatte. Auch die zwei anderen warteten vielleicht an seiner alten Adresse, um wieder Geld von ihm zu verlangen. Er stellte sich die beiden vor, auf dem Trottoir, die Rothaarige, hocherhobenen Kopfs, wie eine Galionsfigur, und der Mann, immer noch genauso steif in seiner Torerohaltung.
»Und wie heißt dieser Typ?« hatte Bosmans gefragt. »Seinen Namen kannst du mir wenigstens sagen.«
Ganz kurz hatte sie gezögert. Ein Anflug von Ängstlichkeit war durch ihren Blick gehuscht.
»Boyaval.«
»Hat er keinen Vornamen?«
Sie gab keine Antwort. Wieder schien sie beunruhigt. Bosmans hatte nicht weiter gedrängt.
Schnee fiel in der Nacht. Es genüge, hatte er zu Margaret gesagt, sich einzureden, man sei sehr weit weg von Paris, in den Bergen, irgendwo im Engadin. Diese drei Silben hatten etwas Weiches, sie besänftigten und ließen einen alle unangenehmen Begegnungen vergessen.
Boyaval. Er war froh, einen Namen zu haben für diesen Kerl, der Margaret so zu beunruhigen schien. Wenn man den Namen einmal wusste, konnte man sich der Gefahr stellen. Er nahm sich vor, diesen Boyaval ohne Margarets Wissen unschädlich zu machen, so wie er die Rothaarige – angeblich seine Mutter – unschädlich gemacht hatte und den schwarzgekleideten Mann, von dem er nicht genau sagen konnte, ob er aussah wie ein aus der Kutte gesprungener Pfarrer oder ein falscher Torero.
M it der Zeit … Neulich spazierte er die Rue de Seine entlang. Das Viertel hatte sich verändert seit jenen fernen Jahren mit der
Weitere Kostenlose Bücher