Der Horizont: Roman (German Edition)
eine neue Arbeit zu finden. Also arbeiteten Mérovée und die anderen »ein bisschen« für die Polizeipräfektur … Das erinnerte ihn an ein Wort, das trotz seines lustigen Klangs etwas Sinistres hatte: Verpfeiferin. Aber kannte es Margaret?
Er erwartete sie immer um die gleiche Zeit am Anfang der Rue Radziwill, einer schmalen Straße, durch die kein Auto fuhr, und Bosmans fragte sich, ob es nicht eine Einbahnstraße war. Um diese Zeit war es schon finster. Zwei- oder dreimal hatte er sie im Büro abgeholt, weil es zu kalt war, um draußen zu warten. Das erste Gebäude rechts. Man trat durch eine niedrige Tür. Eine Treppe mit Auf- und Abgang, sodass die Hinaufgehenden den Hinabgehenden niemals begegneten. Und dann hatte das Gebäude noch ein anderes Eingangstor, in der Rue de Valois. Er hatte aus Spaß zu Margaret gesagt, sie brauche sich vor besagtem Boyaval nicht zu fürchten. Wenn er ihr draußen auflauerte, konnte sie ja durch den anderen Ausgang entwischen. Und sollten sie beide zufällig die Treppe benutzen, sie und Boyaval, würden sie nicht aufeinandertreffen, und ihr bliebe genug Zeit zum Verschwinden. Sie hörte ihm aufmerksam zu, aber diese Ratschläge schienen sie nicht wirklich zu beruhigen.
Wenn Bosmans zu ihr ging, durchquerte er eine Halle, deren Wände mit Metallschränken bedeckt waren und in deren Mitte ein großer, mit Mappen und Aktenordnern beladener Tisch stand. Das Telefon läutete, und niemand hob ab. Der Raum, in dem sie arbeitete, war kleiner und ging auf die Rue de Valois. Der Kamin und der Spiegel darüber verrieten, dass dieses Büro früher ein Schlafzimmer gewesen sein musste. An den Abenden, da er mit ihr zusammen hier war, bevor sie die Treppe mit Auf- und Abgang hinunterstiegen und durch die Rue de Valois fortgingen, hatte er die Gewissheit, dass sie außerhalb der Zeit waren, abseits von allem, vielleicht noch mehr als in dem Zimmer in Auteuil.
Die Stille, das Telefon in der Halle, das für nichts und wieder nichts läutete, die Schreibmaschine, auf der Margaret irgendeinen »Bericht« fertigtippte, das alles hinterließ bei Bosmans den Eindruck eines Tagtraums.
Unter den menschenleeren Arkaden des Palais-Royal spazierten sie zur Metro. Bosmans erinnerte sich an die Einkaufspassage in dieser Station und fragte sich, ob sie heute noch existierte. Es gab die verschiedensten Geschäfte, einen Friseur, einen Blumenladen, einen Teppichhändler, Telefonkabinen, ein Schaufenster voller Damenunterwäsche mit Hüfthaltern aus einer anderen Zeit, und ganz am Ende ein Podest, auf dem sich Männer in Ledersesseln von zu ihren Füßen kauernden Nordafrikanern die Schuhe putzen ließen. Außerdem hing da, am Anfang der Passage, ein Schild mit einem Pfeil und einer Inschrift, die Bosmans seit seiner Kindheit irritierte: w.c. schuhputzer .
Eines Abends, als Margaret und er an diesem » w.c. schuhputzer «-Podest vorübergingen, bevor sie die Treppe hinab zu den Metrobahnsteigen nahmen, zog sie Bosmans am Ärmel. Leise sagte sie ihm, sie glaube, Boyaval erkannt zu haben, der sich auf einem der Sessel die Schuhe putzen lasse.
»Warte eine Minute«, sagte Bosmans.
Er ließ sie am Treppenabsatz stehen und marschierte mit festem Schritt in Richtung » w.c. schuhputzer «. Ein einziger Kunde saß in einem der Sessel auf dem Podest, er trug einen sandfarbenen Mantel. Es war ein Brünetter um die Dreißig mit einem hageren Gesicht, doch von wohlhabendem Äußeren. Er hätte eine Autowerkstatt im Umkreis der Champs-Élysées führen können oder sogar ein Restaurant im selben Viertel. Er rauchte eine Zigarette, während ein kleiner, weißhaariger Mann ihm auf Knien die Schuhe putzte, was Bosmans nicht gefiel, ja, seinen Unwillen erregte. Er, der normalerweise so sanft und schüchtern war, hatte manchmal plötzliche Anfälle von Zorn und Empörung. Er zögerte eine Sekunde, legte eine Hand auf die Schulter des Mannes und drückte sehr fest mit den Fingern. Der andere schaute verdutzt zu ihm hoch:
»Lassen Sie mich los!«
Die Stimme war hart, drohend. Bosmans hoffte von ganzem Herzen, dieser Kerl möge Boyaval sein. Er blickte der Gefahr gern ins Auge. Er lockerte den Druck seiner Finger.
»Sind Sie Monsieur Boyaval?«
»Keineswegs.«
Der Mann erhob sich und ging vor Bosmans in Verteidigungshaltung.
»Sind Sie sicher?« fragte Bosmans mit ruhiger Stimme. »Sie sind nicht Boyaval?«
Er überragte den Mann um einen Kopf und war schwerer als er. Dem anderen schien das klar zu werden. Er blieb
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