Der Horizont: Roman (German Edition)
großer Höflichkeit, doch Bosmans spürte, mehr würde sie nicht sagen. Ungefähr vierzehn Tage später wartete er auf Margaret Le Coz, draußen auf dem Trottoir, abends um sieben. Mérovée war als erster aus dem Haus gekommen. Er trug einen Sonntagsanzug – einen jener Anzüge mit zu knappen Schultern, wie sie damals ein Schneider namens Renoma herstellte.
»Kommen Sie heute abend mit uns?« hatte er Bosmans mit seiner metallischen Stimme gefragt. »Wir gehen aus … In ein Lokal auf den Champs-Élysées … Le Festival …«
Er hatte »Festival« in einem respektvollen Ton ausgesprochen, als handle es sich um eine Hochburg des Pariser Nachtlebens. Bosmans hatte die Einladung abgelehnt. Da hatte sich Mérovée vor ihm aufgepflanzt:
»Verstehe … Sie gehen lieber mit der Boche aus …«
Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, niemals auf die Aggressivität anderer zu reagieren, auch nicht auf Beleidigungen oder Provokationen. Außer mit einem nachdenklichen Lächeln. In Anbetracht seiner Größe und seines Gewichts wäre es meistens ein ungleicher Kampf gewesen. Und schließlich, so schlimm waren die Menschen auch wieder nicht.
An jenem ersten Abend waren sie einfach immer weitergegangen, er und Margaret Le Coz. Sie waren in die Avenue Trudaine gekommen, eine Straße, von der es heißt, dass sie nirgendwo anfängt und nirgendwo endet, vielleicht, weil sie eine Art Enklave oder Lichtung bildet und nur wenige Autos hindurchfahren. Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt.
»Was tun Sie in Ihrem Büro?«
»Sekretariatsarbeit. Und ich übersetze Briefe ins Deutsche …«
»Ach ja, richtig … Sie sind in Berlin geboren …«
Er hätte gern gewusst, warum diese Bretonin in Berlin geboren war, aber sie schwieg. Sie hatte auf ihre Uhr geschaut.
»Ich warte, bis die Stoßzeit vorüber ist, dann nehme ich wieder die Metro …«
Und so warteten sie in einem Café, gegenüber dem Lycée Rollin. Bosmans war zwei oder drei Jahre lang Internatszögling auf diesem Gymnasium gewesen sowie in vielen anderen Schülerheimen in Paris und der Provinz. Nachts stahl er sich aus dem Schlafsaal und lief die stille Straße entlang bis zu den Lichtern von Pigalle.
»Haben Sie etwas studiert?«
Lag es an der Nähe des Lycée Rollin, dass er ihr diese Frage gestellt hatte?
»Nein. Nichts studiert.«
»Ich auch nicht.«
Was für ein komischer Zufall, ihr hier gegenüberzusitzen, in diesem Café der Avenue Trudaine … Ein Stück weiter, auf derselben Straßenseite: die »Wirtschaftsschule«. Ein Schulkamerad vom Lycée Rollin, dessen Namen er vergessen hatte, ein pausbäckiger, brünetter Bursche, der immer Moonboots trug, hatte ihn überredet, sich an dieser »Wirtschaftsschule« einzuschreiben. Bosmans hatte es nur getan, um seinen Militärdienst weiter hinauszuschieben, war aber bloß zwei Wochen geblieben.
»Glauben Sie, ich muss dieses Pflaster noch lange drauflassen?«
Sie rieb mit dem Finger über ihre Augenbraue und das Pflaster. Bosmans meinte, sie solle das Pflaster bis zum nächsten Tag drauflassen. Er fragte, ob es weh tue. Sie zuckte die Schultern.
»Nein, nicht besonders … Vorhin hatte ich Angst zu ersticken …«
Diese Menschenmenge im Metroeingang, die überfüllten Züge, jeden Tag, um die gleiche Zeit … Bosmans hatte irgendwo gelesen, die erste Begegnung zweier Menschen sei wie eine leichte Verletzung, die jeder spürt und die ihn aus seiner Einsamkeit und seiner Benommenheit reißt. Später, wenn er an seine erste Begegnung mit Margaret Le Coz dachte, sagte er sich, dass sie gar nicht anders hätte verlaufen können: da, in diesem Metroeingang, aufeinandergeschleudert. Und wenn man bedenkt, dass sie an einem anderen Abend, am selben Ort, dieselbe Treppe in derselben Menge hinuntergegangen und in denselben Wagen gestiegen wären, ohne sich zu sehen … Aber war das so sicher?
»Ich würde das Pflaster doch gern abmachen …«
Sie versuchte, ein Ende zwischen Daumen und Zeigefinger zu bekommen, aber es gelang ihr nicht. Bosmans war näher gerückt.
»Warten Sie … Ich helfe Ihnen …«
Er löste das Pflaster vorsichtig, Millimeter für Millimeter. Das Gesicht von Margaret Le Coz war dem seinen ganz nahe. Sie gab sich Mühe zu lächeln. Endlich konnte er es mit einem kurzen Ruck vollständig entfernen. Ein Bluterguss, über der Augenbraue.
Er hatte die linke Hand auf ihrer Schulter gelassen. Sie betrachtete ihn aus ihren hellen Augen.
»Morgen früh im Büro werden
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