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Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmine Abate
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sie hatte hellbraune Haare, die mit den Jahren dunkler geworden waren, natürlich rote Lippen und Augen von einer undefinierbarenFarbe, eine Mischung aus Grün und Dunkelblau mit lichten Einsprengseln. Auch sie liebte den Hügel mehr als das Dorf.
    Nach ihrem Tod hatte mein Vater etwa drei Monate lang nach altem Brauch getrauert: Er verließ das Haus nicht, sprach mit niemandem, ließ sich einen struppigen und bedrohlichen Bart wachsen. Von morgens bis abends starrte er ins Kaminfeuer und rauchte eine Zigarette nach der anderen, vielleicht in dem Versuch, noch überlebende Zornes- und Reuegefühle zu versengen. Mama war eine unabhängige und vielreisende Turinerin gewesen, sprühend vor Charme, so sagten alle, die sie kennengelernt hatten; mein Vater ein ruheloser und verträumter Kalabrier, der seine Heimat nur für die seltenen Reisen ins Piemont verließ, unter dem Zwang der »Torinèsia«, wie seine Frau im Dorf genannt wurde. Doch eine Sache hatten sie gemein, im Guten wie im Schlechten: einen unbeugsamen Starrsinn. Ihre Beziehung war nicht leicht gewesen und hatte dennoch ein Leben lang gehalten.
    »Deine Mutter hat nichts mit meinem Entschluss zu tun, hier oben zu leben. Das hatte ich schon vor ihrem Tod entschieden«, sagte mein Vater mit einem Seitenblick auf das Foto. Dann schob er mir einen rustikalen Hocker aus Steineichenholz hin, schenkte mir ein Glas Cirò ein und erzählte die Geschichte seiner Geburt weiter.
    In diesem Moment glaubte ich plötzlich ein Fitzelchen Logik in seinem Umzug zu erkennen. Man kehrt immer an seinen Geburtsort zurück. »Das klingt banal, ist aber so«, sagte mir Simona, indem sie ihren Lieblingsdichter Novalis zitierte: »Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.« Das Zuhause meines Vaters war der Hügel, daher, so dachte ich,hatte er wohl zurückkehren wollen auf der Schwelle der achtzig, um hier den Kreis des eigenen Lebens zu schließen.
    Doch vielleicht irrte ich mich, und auch Simona irrte sich von der Höhe ihrer kategorischen Gewissheiten aus. Vielleicht war ich es, der die wahren Absichten meines Vaters nicht verstand, während er unbeirrbar seinen Weg ging. Und auch wenn ich es weder mir noch Simona eingestehen wollte, dieser Mann mit dem feinen Geruchssinn hatte mich immer noch fest im Griff, und es gelang mir nicht, mich von seinem magnetischen Blick zu lösen.
    Es war derselbe Blick, der ihm von Geburt an eigen war, und die Ersten, die seinem Zauber erlagen, waren ausgerechnet die Großeltern väterlicherseits. Dank dieses kleinen Enkels mit den blitzenden Augen, der unermüdlich staunend jede ihrer Bewegungen verfolgte, waren sie wie neu geboren: Sie lächelten ihn an, ließen endlich wieder Freude erkennen, lachten aus vollem Herzen, kitzelten ihn, küssten ihn auf das Bäuchlein, sangen ihm Wiegenlieder, »schlaf, mein Schätzlein, schlaf ein«. Natürlich waren sie nicht in der Lage, ihr einstiges Glück wiederzufinden, doch immerhin sahen sie nun einen Funken davon, und der kleine Michelangelo war ihr Leitstern. Die Bestätigung einer Wahrheit, die so alt ist wie die Welt: Das einzige Heilmittel gegen den Tod ist ein neues Leben.

4
    Nun, da die Familie neu geboren und gewachsen war, erzählte mein Vater, musste sie anständig versorgt werden, auch wenn die Zeiten hart waren und die Armut allerorten grassierte wie die Malaria, wie die Läuse.
    Die Veteranen des Großen Krieges hatten, um zu überleben, die brachliegenden Flächen des Latifundiums besetzt, und Arturo, einer von ihnen, verpachtete nicht nur zu Schleuderpreisen einige Teilflächen des Rossarco, sondern gründete im Dorf sogar eine Agrar- und eine Konsumgenossenschaft. Sein Vater riet ihm, an die eigene Familie zu denken und sich keinen Ärger einzuhandeln. Der Sohn erwiderte gereizt: »Ich bin zufrieden, wenn es allen gleich gutgeht.« Der Vater gab zurück: »Du bist naiv und zudem ein bisschen dumm, Gleichheit gibt es nicht auf dieser Welt.«
    Die Kooperativen wurden mit dem Visocchi-Dekret legalisiert, die Mitglieder hatten nun den Vorteil, kollektiv mit den Großgrundbesitzern verhandeln zu können und den Pachtzins herabzusetzen. So verhungerten sie wenigstens nicht, meinte Arturo, denn ein Gutes hat das Land: Einen Kanten Brot, einen Teller mit Kichererbsen und Bohnen, Gemüse, Obst für dich und Eicheln für die Schweine gibt es immer her, vor allem wenn es dir gehört, das Land, und du keine Halsabschneider-Pacht bezahlen musst.
    Arturo fand, dass er Glück hatte. Er besaß den Rossarco,

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