Der Hüter des Schwertes
wieder in ihm brodelte, aber nach seinem Zornesausbruch auf der Straße gelang es ihm nun besser, sich zur Ruhe zu zwingen. Außerdem hatte er hier nur ein kleines Mädchen vor sich. Also atmete er ein paarmal tief durch, bevor er fragte: »Gut, wärst du bei deinem Onkel nicht glücklicher?« Martil versuchte, seine Stimme warm klingen zu lassen, er hatte allerdings keine Ahnung, ob es funktionierte.
»Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn nicht.«
Und nicht zum ersten Mal fragte sich Martil, warum es nicht in seiner Natur lag, einfach aufzugeben.
»Du kannst nicht hierbleiben. Ich werde dich zu deinem Onkel bringen.«
Aus Karias Jammern wurde Schluchzen, daraus wurde Schniefen, dann sah sie schließlich zu ihm auf. Die Tränen hatten den Schmutz auf ihrem Gesicht verwischt.
»Du wirst mich zu meinem Onkel bringen? Du allein? Keine Miliz?«
Martil dachte, ihre Besorgnis wegen der Miliz sei nur ein weiteres Zeichen dafür, dass Edil seine Tochter viel zu sehr ins Vertrauen gezogen hatte. Es war Aufgabe der Miliz, Banditen wie Edil zur Strecke zu bringen, aber wenn seine Tochter alles über sie wusste – auch ihren geschmacklosen Rufnamen –, was hatte er ihr dann erzählt?
»Ja, ich werde dich zu deinem Onkel bringen. Ich allein«, versprach er und hatte das Gefühl, als hätte sie gerade in gewissem Maße einen Sieg errungen, auch wenn er noch nicht wusste, was für einer das sein könnte.
»In Ordnung. Hilf mir beim Packen«, sagte sie und rappelte sich wieder auf.
»Welches Bündel gehört dir?«
»Keins von denen.«
»Also, was willst du dann packen?«
»Alles von Paps und den Jungs, was ich will. Die werden es jetzt, da sie tot sind, nicht mehr brauchen.«
Martil versuchte ihren plötzlichen Stimmungsschwankungen zu folgen.
»Für ein junges Mädchen scheinst du eine Menge über den Tod zu wissen«, konnte er nicht verkneifen zu sagen.
»Bevor wir hier waren, haben wir auf einem Bauernhof gelebt. Dort ist ständig irgendetwas gestorben, oder Paps und die Jungs haben irgendetwas getötet. Und immer, wenn sie irgendwelches Zeug mitbrachten, sagten sie, dass die Leute, denen das Zeug vorher gehörte, es nicht mehr brauchten, weil sie tot wären«, erklärte sie sachlich.
»Ach ja, richtig.« Martil war sich nicht sicher, ob er diese Erklärung tröstend oder beunruhigend fand.
Währenddessen packte sie das erste Bündel aus und brachte schmutzige Kleider und alte Werkzeuge zum Vorschein, die sie alle zur Seite legte. Nur ein Spiegel und eine Bürste aus Holz, beide nicht eben in bestem Zustand, blieben übrig.
Dann durchstöberte sie die Kleider und zog ein großes purpurnes Hemd hervor. Es war das Teil mit der leuchtendsten Farbe in dem Kleiderbündel, obgleich das Purpur von Licht und Dreck verblasst war.
»Soll ich das für dich tragen?«, fragte Martil.
Ohne zu antworten, löste sie das Seil, das ihr als Gürtel diente, streifte das alte Hemd ab und griff nach dem purpurnen.
Martil sah, wie hager sie war, wie deutlich sich ihre Rippen abzeichneten. Sie hatte stelzendünne Beine. Anfangs dachte er, sie sei auch von Kopf bis Fuß dreckverschmiert, bis er entsetzt begriff, dass ihr ganzer Körper von Blutergüssen und Prellungen übersät war. Dann drehte er sich, so schnell er konnte, um.
»Was machst du da?«, fragte er barsch.
»Mich anziehen«, sagte sie in einem Tonfall, der erkennen ließ, dass sie ihn für beinahe so intelligent wie ein dummes Schaf hielt.
»Das gehört sich nicht! Geh hinter einen Baum!«
»Warum?«
»Es gehört sich nicht. Man zieht sich nicht vor fremden Leuten aus! Hat dein Paps dir das nicht beigebracht?«
»Nein. Warum, ist das wichtig?«
Aus ihrer Stimme sprach nichts als reine Neugierde, und Martil knirschte entgeistert mit den Zähnen. Musste er ihr etwa alles erklären? Er fühlte, wie ihm die Kontrolle der Situation entglitt.
»Dafür haben wir keine Zeit! Also, ich bin ein Erwachsener, und du bist ein Kind, und wenn ich sage, dass sich etwas nicht gehört, dann stellst du das nicht in Frage!«, knurrte er grimmig.
»Schlag mich nicht!«
Martil drehte sich zu ihr und sah, dass sie das Hemd inzwischen anhatte, sich aber schützend vor ihm zusammenkauerte. Bei diesem Anblick wich sein Zorn schnell der Selbstverachtung.
»Wenn ich dich nicht geschlagen habe, als du mit dem Messer auf mich losgegangen bist, warum sollte ich dich jetzt schlagen?«, fragte er ernsthaft verwirrt.
»Deine Stimme. So etwa hat Paps immer gesprochen, bevor er mich geschlagen
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