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Der Hund des Todes

Der Hund des Todes

Titel: Der Hund des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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überhaupt die Seele ist?«
    »Es ist gut, dass so etwas nur selten als ›Naturlaune‹ auftritt«, bemerkte Sir George. »Wenn dieser Fall normal wäre, würde das zu recht hübschen Komplikationen führen.«
    »Dieser Fall ist allerdings ungewöhnlich«, stimmte der Arzt zu. »Es war jammerschade, dass keine längeren Studien betrieben werden konnten. Durch Felicies unerwarteten Tod wurde allem ein rasches Ende gesetzt.«
    »Dieser Tod war sonderbar, wenn ich mich recht erinnere«, sagte der Rechtsanwalt langsam.
    Dr. Campbell Clark nickte.
    »Eine völlig unerklärliche Geschichte. Das Mädchen wurde eines Morgens tot im Bett gefunden. Sie war offensichtlich erdrosselt worden. Aber zu jedermanns Überraschung konnte ohne jeden Zweifel bewiesen werden, dass sie sich selbst erdrosselt hatte. Die Male an ihrem Hals stammten von ihren eigenen Fingern. Eine Selbstmordart, die, obwohl körperlich nicht unmöglich, eine beachtliche Muskelkraft und große menschliche Willensstärke erfordert. Was das Mädchen zu einer solchen Wahnsinnsanstrengung getrieben hat, wurde nie herausgefunden. Ihr seelisches Gleichgewicht muss immer labil gewesen sein, aber damit endete alles. Der Vorhang fiel für immer über das Geheimnis der Felicie Bault.«
    In diesem Moment lachte der Mann in der vierten Ecke auf.
    Die drei anderen fuhren herum, wie von der Tarantel gestochen. Sie hatten die Existenz des Vierten vollkommen vergessen. Als sie auf den Platz starrten, auf dem er saß – noch immer eingemummt in seinen Mantel –, lachte er wieder.
    »Sie müssen entschuldigen, Gentlemen«, sprach er in perfektem Englisch, das nichtsdestoweniger einen ausländischen Klang hatte.
    Er setzte sich auf und entblößte ein blasses Gesicht mit kleinem, pechschwarzem Schnurrbart.
    »Ja, Sie müssen entschuldigen«, sagte er und verbeugte sich spöttisch. »Aber wirklich! Wurde in der Wissenschaft jemals das letzte Wort gesprochen?«
    »Wissen Sie etwas von dem Fall, über den wir sprechen?« fragte der Arzt höflich.
    »Von dem Fall? Nein. Aber ich kannte sie.«
    »Felicie Bault?«
    »Ja. Und Annette Ravel auch. Sie haben niemals von Annette Ravel gehört, wie ich sehe? Die Geschichte der einen ist gleichzeitig die Geschichte der anderen. Glauben Sie mir, Sie wissen nichts von Felicie Bault, wenn Sie nicht auch die Geschichte der Annette Ravel kennen.«
    Er zog seine Uhr hervor und sah darauf.
    »Noch genau eine halbe Stunde bis zur nächsten Station. Ich habe Zeit, Ihnen die Geschichte zu erzählen – das heißt, wenn Sie sie hören wollen.«
    »Bitte, erzählen Sie«, antwortete der Arzt ruhig.
    »Herzlich gern«, sagte Parfitt. »Herzlich gern.«
    Sir George Durand nahm nur eine Haltung gespannter Aufmerksamkeit an.
    »Mein Name«, begann der fremde Reisegefährte, »ist Raoul Letardeau. Sie hatten von einer englischen Dame gesprochen, einer Miss Slater, die ihr Leben der Wohltätigkeit gewidmet hatte. Ich wurde in diesem Fischerdorf in der Bretagne geboren, und als meine Eltern bei einem Zugunglück ums Leben kamen, war es Miss Slater, die mir zu Hilfe kam und mich vor dem bewahrte, was Sie Engländer das Waisenhaus nennen. Sie hatte schon an die zwanzig Kinder unter ihrer Obhut, Mädchen und Jungen. Unter diesen Kindern waren auch Felicie Bault und Annette Ravel. Wenn es mir nicht gelingt, Ihnen die Persönlichkeit von Annette verständlich zu machen, Gentlemen, werden Sie nichts verstehen. Sie war das Kind eines, wie man bei uns sagt, ›fille de joie‹, eines Freudenmädchens, das, von seinem Liebhaber verlassen, an Tuberkulose gestorben war. Die Mutter war Tänzerin gewesen, und auch Annette hatte den Wunsch zu tanzen. Als ich sie zum ersten Mal sah, war sie ein Kind von elf Jahren, ein kleines Ding mit Augen, die abwechselnd spotteten und versprachen – ein kleines Wesen, ganz Feuer und Leben. Auf einmal machte sie mich zu ihrem Sklaven. ›Raoul, tu dies für mich; Raoul, tu das für mich.‹ Und ich gehorchte. Ich betete sie an, und sie wusste es.
    Manchmal gingen wir zum Strand hinunter, zu dritt – denn Felicie kam immer mit. Dann zog Annette Schuhe und Strümpfe aus und tanzte auf dem Sand. Und wenn sie atemlos niedersank, erzählte sie uns, was sie tun und was sie sein würde.
    ›Seht ihr, ich werde berühmt werden. Ja, ganz groß und berühmt. Ich werde Hunderte und Tausende von Seidenstrümpfen haben – die feinsten Seidenstrümpfe. Und ich werde ein wunderschönes Appartement haben. Alle meine Liebhaber werden jung und schön

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