Der Hund des Todes
die Wirklichkeit zurückzurufen schien. Sie blinzelte erstaunt mit den Augen, starrte auf die Kerze, dann auf uns. Schließlich fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn. ›Ja, was tue ich denn da?‹, murmelte sie.
›Du isst eine Kerze!‹, brüllten wir.
›Ich befahl dir das. Ich befahl dir das‹, schrie Annette vor Freude und tanzte herum.
Felicie starrte sie einen Moment lang an. Dann ging sie langsam auf Annette zu.
›Dann bist du es, die mich lächerlich gemacht hat. Ich glaube, ich erinnere mich. Oh, ich werde dich dafür töten.‹
Sie hatte das sehr ruhig gesagt, sodass Annette plötzlich wegrannte und sich hinter mir versteckte.
›Rette mich, Raoul! Ich habe Angst vor Felicie. Es war doch nur ein Scherz, Felicie. Nur ein Scherz.‹
›Ich mag solche Scherze nicht‹, sagte Felicie. ›Versteht ihr? Ich hasse dich. Ich hasse euch alle!‹
Dann brach sie plötzlich in Tränen aus und rannte fort.
Annette war, glaube ich, über das Ergebnis ihres Experiments erschrocken und versuchte nicht, es zu wiederholen. Doch von diesem Tage an schien ihre Herrschaft über Felicie noch stärker geworden zu sein.
Ich glaube heute, Felicie hasste sie tödlich, aber sie konnte Annette nicht mehr verlassen. Sie lief Annette überall nach wie ein Hund.
Tja, meine Herren, bald darauf nahm ich meine erste Stellung an. Ich besuchte das Heim nur noch während meiner Ferien. Annettes Wunsch, Tänzerin zu werden, war nicht ernst zu nehmen gewesen, aber als sie älter wurde, entwickelte sie eine hübsche Singstimme, und Miss Slater erklärte sich damit einverstanden, ihr Gesangsstunden geben zu lassen.
Annette war nicht faul. Sie arbeitete fieberhaft, ohne sich Ruhe zu gönnen. Miss Slater musste sie manchmal davon abhalten, sich zu überanstrengen. Einmal sprach sie mit mir über Annette.
›Du hast Annette doch immer gern gemocht. Rede auf sie ein, dass sie nicht zu viel arbeitet. Neulich hatte sie einen Husten, der mir gar nicht gefiel.‹
Durch meine Arbeit musste ich bald darauf weit fortfahren. Zuerst erhielt ich noch ein oder zwei Briefe von Annette, dann folgte Schweigen. Dann war ich fünf Jahre in Amerika.
Durch Zufall kam ich danach wieder nach Paris. Ich las ein Plakat, das eine Annette Ravelli ankündigte. Es war auch ein Bild der Dame darauf abgebildet. Ich erkannte sie sofort wieder. Am Abend ging ich in das bezeichnete Theater. Annette sang in französischer und italienischer Sprache. Auf der Bühne war sie großartig. Nachher ging ich in ihre Garderobe. Sie empfing mich sofort.
›O Raoul!‹ rief sie aus und streckte mir ihre weißen Hände entgegen. ›Das ist wunderbar. Wo bist du in all den Jahren gewesen?‹
Ich erzählte es ihr, aber sie schien nicht richtig zuzuhören.
›Siehst du, jetzt habe ich es fast erreicht.‹ Triumphierend wies sie auf ihre Garderobe, die voll von Blumen war.
›Die gute Miss Slater muss sehr stolz sein auf deinen Erfolg.‹
›Die Alte? Nein, überhaupt nicht. Sie wollte doch, dass ich aufs Konservatorium gehe, weißt du nicht mehr? Ich sollte Konzertsängerin werden. Aber ich bin eine Künstlerin. Hier auf der Varieteebühne kann ich mich am besten verwirklichen.‹
In dem Moment trat ein gut aussehender Mann im besten Alter ein. Sein Benehmen war vornehm und wohl erzogen. Bald entnahm ich seinen Gesprächen, dass er Annettes Manager war. Er sah zu mir hin, und Annette erklärte ihm, dass ich ein Freund aus ihrer Kinderzeit und gerade in Paris sei, hier ihr Bild auf dem Plakat gesehen habe.
Daraufhin war der Herr sehr leutselig und freundlich zu mir. In meiner Gegenwart holte er ein Brillantarmband hervor und legte es um Annettes Handgelenk. Als ich mich erhob, um fortzugehen, wandte sie sich mir mit einem triumphierenden Blick zu.
Aber als ich ihre Garderobe verließ, hörte ich ihren Husten, einen scharfen, trockenen Husten. Ich wusste, was dieser Husten bedeutete. Er war das Erbe ihrer tuberkulösen Mutter.
Zwei Jahre darauf sah ich sie wieder. Sie hatte bei Miss Slater Zuflucht gesucht. Ihre Karriere war zusammengebrochen. Ihre Krankheit war weit fortgeschritten, und die Ärzte sagten, dass man nichts mehr tun könne. Ach, ich werde niemals vergessen, wie ich sie sah. Sie lag an einem geschützten Platz im Garten. Man hielt sie Tag und Nacht draußen. Ihre Wangen waren hohl und gerötet, ihre Augen glänzten fiebrig, und sie hustete sehr viel. Sie begrüßte mich mit einer Verzweiflung, die mich verblüffte.
›Es tut gut, dich zu sehen, Raoul. Du
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