Der Hund von Baskerville
Früher, in seinen guten Tagen, mochte es ein behäbiges Bauernhaus gewesen sein, doch nun war es zu einem modernen Wohnhaus umgebaut worden. Ein Obstgarten umgab das Haus. Aber die Bäume waren wie so viele auf dem Moor krüppelig und klein. Im ganzen machte der Besitz einen eher schäbigen und melancholischen Eindruck. Eingelassen wurden wir von einem alten, vertrockneten Diener in abgenutzter Livree, der wohl auch das Haus in Ordnung zu halten hatte. Innen befanden sich große Räume, und die Eleganz, mit der sie möbliert waren, zeugte vom guten Geschmack der Dame des Hauses. Als ich durch die Fenster auf das endlose, mit Steinbrocken übersäte Moor hinaussah, dessen Eintönigkeit sich bis zum fernen Horizont erstreckte, mußte ich mich unwillkürlich fragen, was wohl diesen gebildeten Mann und diese schöne Frau dazu gebracht hatte, ausgerechnet an einem solchen Ort zu wohnen.
»Eine merkwürdige Gegend, die wir uns als Wohnsitz ausgesucht haben, finden Sie nicht?« bemerkte Stapleton, als hätte er meine Gedanken erraten. »Und trotzdem gelingt es uns, hier ziemlich glücklich zu sein, nicht wahr, Beryl?«
»Recht glücklich, ja«, sagte sie, aber es lag keine rechte Überzeugung in ihrer Stimme.
»Ich hatte früher mal eine Schule«, sagte Stapleton. »Es war im Norden. Die Arbeit war für einen Mann meines Temperaments zu mechanisch und uninteressant, aber das Privileg, mit jungen Menschen zusammenzusein, junge Geister zu bilden und ihnen mit meinem Charakter und meinen Idealen Vorbild zu sein, hat mir doch sehr viel bedeutet. Wie auch immer — das Schicksal war gegen uns. Eine schwere Epidemie brach an der Schule aus, und drei der Jungen starben. Von dem Schlag habe ich mich nie wieder recht erholt, und ein großer Teil meines Kapitals war unwiederbringlich verloren. Doch wenn man von dem traurigen Verlust fröhlicher Knabengesellschaft absieht, könnte ich über mein eigenes Unglück jubeln, denn bei meiner großen Vorliebe für Zoologie und Botanik finde ich hier ein unbegrenztes Betätigungsfeld. Und meine Schwester liebt die Natur genauso wie ich. Ja, Dr. Watson, all dies mußte ich Ihnen sagen, weil Sie so traurig ausgesehen haben, als sie eben durch das Fenster auf das Moor hinaussahen.«
»Gewiß kam mir eben der Gedanke in den Sinn, daß das Leben hier ein wenig eintönig sein könnte, vielleicht weniger für Sie als für Ihre Schwester.«
»Nein, ich finde es hier gar nicht eintönig«, sagte sie schnell.
»Wir haben unsere Bücher und unsere Studien, und wir haben interessante Nachbarn. Dr. Mortimer ist auf seinem Fachgebiet ein sehr gelehrter Mann. Der arme Sir Charles war uns auch immer eine liebe Gesellschaft. Wir kannten ihn gut und vermissen ihn mehr, als wir sagen können. Glauben Sie, daß es fehl am Platze wäre, wenn ich eines Nachmittags herüberkäme, um Sir Henrys Bekanntschaft zu machen?«
»Ich bin sicher, daß er sich freuen würde.«
»Würden Sie dann ihm gegenüber schon einmal erwähnen, daß ich diese Absicht habe? In unserer schlichten Art könnten wir ihm vielleicht helfen, sich in seiner neuen Umgebung zurechtzufinden und einzugewöhnen. Wollen Sie mit mir hinaufkommen, um sich meine Schmetterlingssammlung anzusehen? Ich glaube beinahe, sie ist die vollständigste hier im Südwesten von England. Wenn wir sie uns angesehen haben, wird wohl auch das Mittagessen fertig sein.«
Aber ich war jetzt bestrebt, zu meinem Schützling zurückzukehren. Die Melancholie des Moores, der Tod des unglücklichen Ponys, der unheimliche Ruf, der mit der gruseligen Sage der Baskervilles in Zusammenhang gebracht worden war —, all das erfüllte meine Gedanken mit Traurigkeit. Als wenn das noch nicht alles gewesen wäre, kam zu diesen starken Eindrücken noch die Warnung von Miss Stapleton, die mit solcher Eindringlichkeit vorgebracht worden war, daß ich nicht daran zweifeln konnte, sie sei ernst zu nehmen. Ich widerstand dem freundlichen Drängen, zum Essen zu bleiben, und machte mich unverzüglich auf den Heimweg den Moorpfad entlang, den wir gekommen waren. Es schien für Eingeweihte einen Abkürzungsweg zu geben, denn bevor ich noch die Straße erreicht hatte, sah ich zu meinem Erstaunen Miss Stapleton am Straßenrand auf einem Stein sitzen. Ihr Gesicht war vom schnellen Lauf gerötet, was es noch schöner machte. Sie hielt sich die Hand in die Seite.
»Ich bin so gerannt, um Ihnen den Weg abzuschneiden, Dr. Watson«, sagte sie. »Ich habe mir nicht einmal Zeit genommen, meinen
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