Der Hund von Baskerville
wohlunterrichtet sind. Je länger man hier weilt, desto weniger kann man sich der Faszination des Moores entziehen. Es lockt mit seiner unheimlichen Weite und Öde und auch mit dem Reiz der Gefahr. Hier draußen im Moor ruht man am Busen der Natur und hat alle Spuren des modernen Englands hinter sich gelassen, aber dafür sieht man auf Schritt und Tritt Zeugnisse vom Leben und Treiben unserer Vorfahren aus vorgeschichtlicher Zeit. Wo immer Sie hier auch hinwandern mögen, überall finden Sie Reste von Wohnstätten vergessener und versunkener Volksstämme, ihre Gräber und die riesigen Monolithe, von denen man sagt, daß sie einmal ihre Tempel gestützt haben. Wenn man ihre grauen Steinhütten an den Hängen der zerklüfteten Hügel betrachtet, verläßt man sein eigenes Zeitalter. Und sähe man einen in Felle gehüllten, haarigen Menschen aus einer der niedrigen Hütten kriechen, der einen mit Flintstein besetzten Pfeil auf den Bogen legt, hätte man das Gefühl, seine Gegenwart sei hier natürlicher als die eigene. Es ist seltsam, wie dicht sie diese Gegend damals besiedelt haben, obwohl der Boden doch schon immer unfruchtbar gewesen ist. Ich bin kein Altertumsforscher, aber ich könnte mir vorstellen, daß sie eine friedliche Rasse waren, die von anderen unterdrückt wurde und daher nehmen mußte, was sie bekam und was sonst keiner haben wollte.
Aber dies alles hat nichts mit der Mission zu tun, zu der Sie mich ausgeschickt haben, und wird für Ihren praktischen Sinn wohl völlig uninteressant sein. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es Ihnen einmal in einer Diskussion völlig gleichgültig war, ob die Erde sich um die Sonne oder die Sonne sich um die Erde dreht. Lassen Sie mich deshalb zu den Tatsachen zurückkehren, die Sir Henry Baskerville betreffen.
Wenn Sie sich wundern, weshalb Sie in den letzten Tagen keinen Bericht von mir erhalten haben, so liegt das daran, daß es nichts Wichtiges zu berichten gab. Dann passierte etwas sehr Merkwürdiges, aber davon werde ich Ihnen später erzählen. Zunächst muß ich ein paar Fakten beibringen, damit Sie auf dem laufenden sind. Da wäre der entflohene Zuchthäusler, von dem ich Ihnen bisher noch wenig berichtet habe. Man hat berechtigten Grund anzunehmen, daß er aus der Gegend verschwunden ist, und das ist eine große Erleichterung für die Leute auf den einsamen Gehöften. Vor vierzehn Tagen ist er ausgebrochen, und seit dieser Zeit hat man weder etwas von ihm gehört, noch ihn gesehen. Es ist kaum vorstellbar, daß er sich so lange Zeit auf dem Moor hätte halten können. Natürlich war es nicht so schwer für ihn, dort ein Versteck zu finden. Irgendeine der vielenSteinhütten konnte ihm als Unterschlupf dienen. Aber es gibt nichts zu essen, falls er sich nicht ein Moorschaf fängt und es schlachtet. Wir denken darum, daß er entkommen ist, und die Bauern in der Gegend schlafen wieder besser.
Im Schloß hier sind wir vier starke Männer, die gut auf sich aufpassen können, aber ich gestehe Ihnen, daß mir manchmal nicht wohl war, wenn ich an die Stapletons dachte. Sie leben Meilen entfernt von jeglicher Hilfe. In ihrem Haushalt gibt es ein Dienstmädchen und einen alten Diener, dann natürlich die Schwester und den Bruder, und der ist kein besonders starker Mann. Sollte ein zu allem entschlossener Mensch wie der Notting-Hill-Mörder sich Eingang in ihr Haus verschaffen, wären sie ihm völlig hilflos ausgeliefert. Sir Henry und ich haben uns beide Sorgen um sie gemacht, und wir haben vorgeschlagen, daß Perkins, der Pferdeknecht, bei ihnen übernachten könne, aber Stapleton wollte davon nichts hören. Inzwischen hat unser Freund, der Baronet, ein recht großes Interesse an unseren Nachbarn entwickelt. Darüber braucht man sich wohl auch nicht zu wundern. Denn die Zeit wird einem aktiven Menschen wie ihm an einem so einsamen Ort natürlich lang, und sie ist eine faszinierend schöne Frau. Sie hat etwas Tropisches und Exotisches an sich - ein großer Gegensatz zu ihrem kühlen und ruhigen Bruder. Trotzdem spürt man auch bei ihm ein gewisses verstecktes Feuer. Ganz gewiß hat er großen Einfluß auf sie. Ich habe bemerkt, daß sie unaufhörlich zu ihm hinüberblickt, wenn sie redet, als ob jedes Wort, das sie äußert, seine Zustimmung braucht. Trotzdem glaube ich, daß er nett zu ihr ist. Es ist ein seltsam harter Glanz in seinen Augen und ein fester Zug um seine zusammengekniffenen schmalen Lippen, was auf Eigensinn und Strenge, womöglich auch auf
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