Der Hundeflüsterer - Thriller (German Edition)
würde sie sich als reiche Frau zur Ruhe setzen und endlich ohne Alpträume schlafen können.
Ruhig spannte sie den Hahn ihrer Pistole, sah, wie der Mann die blauen Augen zusammenkniff, wohl um ihr Gesicht im Gegenlicht zu erkennen, aber sie hatte sich vorsichtshalber wieder den weißen Schal um Mund und Nase gewickelt. Das Heulen der Sirenen kam langsam näher, bald würde es hier vor Polizisten wimmeln, jetzt musste sie die Mission zügig zu Ende bringen.
Ohne sie aus den Augen zu lassen, drehte der Mann wie besessen an der Krone seiner großen schwarzen Uhr, so als könne er die Zeit zurückdrehen und dadurch seinen Tod verzögern. Doch etwas an dieser sinnlosen Tätigkeit irritierte sie, machte sie stutzig. Genau in dem Augenblick, als sie abdrücken wollte, schnellte ein hauchdünnes Seil mit einem Saugknopf auf die Mauerkrone direkt vor ihren Füßen, der Mann katapultierte sich an dem Seil nach oben, krallte seine Hände in ihre Sprunggelenke und riss sie von der Mauer. Mit einem Wutschrei fiel sie in den Hinterhof der Boutique, rollte sich vom Boden ab, schoss nach oben, verfehlte aber den Mann, der das dünne Stahlseil jetzt wieder blitzschnell in seine Uhr zurückspulte und ebenfalls von der Mauer sprang. Sie drückte erneut ab, doch nichts passierte, nur das Klacken des Bolzens war zu hören, ihr Magazin war leer.
Die Zeit raste unerbittlich weiter, das Geheul der Sirenen kam immer näher und Leyla blieb keine Zeit mehr, nachzuladen, um die Mission zu beenden. Vor Wut und Enttäuschung keuchend huschte sie zurück in das Haus, raste nach oben in das Dachgeschoss, schlug die Dachluke mit der Faust auf, schwang sich mit einem Klimmzug auf das leicht schräge Dach aus gebrannten Tonziegeln. Geschickt balancierte sie an der Dachrinne entlang, gelangte so auf das Dach des nächsten Hauses und entfernte sich immer weiter vom Tatort. Als sie einen Blick nach unten in einen der Hinterhöfe warf, bemerkte sie zu ihrer Überraschung, dass der Mann, den sie töten musste, bereits die Verfolgung aufgenommen hatte, durch die verschachtelten Hinterhöfe sprintete und wie ein Hürdenläufer über die Steinmauern sprang. Einem Hochleistungssportler gleich raste er vorwärts, kam näher und immer näher, flog beinahe eine steinerne Außentreppe nach oben, erreichte auf diese Weise ein Flachdach, sprang von dort zum nächsten Dach und war jetzt nur noch wenige hundert Meter von ihr entfernt. Leyla verdoppelte ihre Geschwindigkeit, Dachziegel zerbarsten unter ihren weit ausholenden Sprüngen, doch plötzlich wurde ihre Flucht über die Dächer jäh gestoppt, denn eine schmale, vielleicht fünf Meter breite Gasse trennte sie von der anderen Seite.
Mit vor Wut und Atemnot brennenden Lungen blieb Leyla an der Hauskante stehen, starrte in die Gasse hinunter, dann auf die gegenüberliegenden Dächer, dachte an das weiße Haus am Meer und daran, dass sie lieber tot wäre als jemals wieder arm. Blitzschnell wirbelte sie herum, sah den Mann, der näher und immer näher kam, jetzt wieder von Angesicht zu Angesicht. Sie hob die Pistole, wusste, dass sie ein leeres Magazin hatte, trotzdem drückte sie ab, immer und immer wieder knallte der Bolzen auf die leere Kammer und Leyla lachte vor Wut laut auf. Die Sonne verschwand langsam hinter den Hausdächern, letzte Sonnenstrahlen brachen sich an einem mit Kupfer verkleideten Schornstein und tauchten sie in ein goldenes Licht. Mit einem tiefen Atemzug drehte sich Leyla wieder zur Hauskante, dachte an das weiße Haus und sprang ins Nichts.
*
Knapp bevor David Stein die Frau erreicht hatte, stieß sie sich wie eine Turmspringerin von der Hauskante ab und erreichte mit knapper Not die Dachrinne auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie rutschte ab, fiel auf eine blauweiß gestreifte Markise, die über den Gehsteig gespannt war. Mit einem lauten Ratschen zerriss der Stoff, sie stürzte auf den Asphalt. Geschickt rollte sie sich ab, kam wieder auf die Füße und sprintete weiter Richtung Hafen.
David stand oben an der Hauskante und sah die Frau die lang gezogene Kurve zum Hafen hinunterrennen. Er überlegte nicht lange, sondern schwang sich über die Kante, packte ein steinernes Abflussrohr, das sich außen an der Hausmauer nach oben schlängelte, rutschte daran nach unten und landete auf dem Gehsteig. Als er sich aufrichtete, sah er gerade noch, wie die Frau in die Straße zum alten Fischerhafen einbog. Er hetzte hinterher, verlor sie jedoch im Gewühl der Touristen aus den Augen.
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