Der Hundeknochen
für einen Dackel, der die volle Länge seiner extralangen Leine ausnutzte und alle Kräfte aufbot, um an meinen feuchten Hosenbeinen zu schnuppern.
»Pfui, Rudi, pfui!« versuchte ihn sein Herr, grauhaarig und adrett, von schlechtem Umgang fernzuhalten. Es gelang ihm nicht; der Dackel schnüffelte weiter an mir, um anschließend auf dem Gehweg sein Geschäft zu verrichten. Sein Herr gab mir die Schuld. »Sie Ferkel!« rief er mir nach.
Kaum begann die Spannung nach dem überstandenen Kampf zu verebben, baute sich schon wieder neuer Streß in mir auf. Sollte ich ihn auffordern, die Kacke seines Dackels zu entfernen, damit er wußte, wer das Ferkel war? Ach, die unappetitliche Begegnung im Eckstübchen hatte mir gereicht. So richtig lustig waren selbst gewonnene Schlägereien nicht.
Der Dackel hatte mittlerweile ein neues Opfer gefunden. In sein wütendes Bellen mischte sich sanftes Klatschen. Laufgeräusche näherten sich.
Ein Mann im grauen Jogginganzug rückte an meine Seite, machte ein paar Laufschritte auf der Stelle und sagte zwischen heftigen Atemstößen: »Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Es geht um Unfälle am Bau. Morgen abend, sechs Uhr, Ludgerikirche.«
Er berührte mich wie zufällig an der Seite, dann trabte er weiter.
Zu Hause sah ich mir das Kärtchen an, das er mir zugesteckt hatte: Tom Becker, Redaktion WAZ.
»Mein erster Kirchgang seit langem. Warum gerade hier, Herr Becker?« Er trug wieder Laufschuhe, die Leuchtstreifen hatten, war schlank, Mitte Dreißig, mit wachen, klugen Augen.
»Ist doch mittlerweile der einzige Ort, wo man vor Wanzen sicher sein kann.«
»So brisant?«
Er hob die Schultern. »Sie ermitteln in der Sache Wieczorek?«
»Mal weiter«, sagte ich.
Bekleidet mit einer Kapuzenjacke, die schmalen Hände in ständiger Bewegung, sprach er darüber, daß gegen rund ein Dutzend Baufirmen in Nordrhein-Westfalen ermittelt werde, wegen des Verdachts, die geltenden Mindestlöhne nicht gezahlt zu haben.
»Eher was für die Gewerkschaft«, warf ich ein.
Er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Bei den Razzien der Einsatzgruppe ›Lohndrücker‹, präsentierten die Arbeiter stets Zettel, auf denen die Firma ihnen formell bescheinigte, den Mindestlohn zu zahlen. Demnach alles korrekt.«
Licht fiel durch die geöffnete Kirchentür, eine alte Frau nahm ein paar Reihen vor uns Platz.
Becker sprach weiter: »Bei meinen eigenen Recherchen bin ich zu ganz anderen Ergebnissen gekommen. Beinahe die Hälfte des Lohns verschwindet in der Rubrik Abzüge, für Verpflegung und Unterkunft, auch dann, wenn der Arbeiter seinen Henkelmann mitbringt und im eigenen Heim wohnt; weiteres Geld wird für die Sicherheitsausrüstung, Helm, Werkzeug, Schutzanzüge und irgendwelche dubiosen Kautionen einbehalten. Steigt der Arbeiter aus, muß er Strafen bezahlen. Obwohl diese Praktiken mittlerweile auch den Arbeitsämtern sowie den Amts- und Strafgerichten bekannt sind, dürfen die Firmen weitermachen, denn zu einem rechtskräftigen Urteil, wenn überhaupt, kommt es erst nach Jahren. Wollen Sie wissen, warum?«
»Sie werden es mir sagen.«
»Es fehlen Beweise und Zeugen.«
»Und Sie hatten einen Arbeiter gefunden, der aussagen wollte?«
»Richtig. Jan Wieczorek, der bei mir in der Redaktion war und seine Aussage schon auf Band gesprochen hatte. Bei ihm war es besonders kraß. Nach seiner Aufstellung hätte er rund 5000 Mark brutto verdienen müssen, bekommen hat er nur 900, der Rest sollte ihm angeblich in Polen ausbezahlt werden.«
»Warum in Polen?«
»Fürs Einschleusen, für gefälschte Papiere – er hat mir das nur angedeutet. Es wäre der Knaller geworden. Die Schlagzeile hatte ich schon: ›Die im Dunkeln sieht man nicht‹, und ›Schuften für einen Hungerlohn – auf deutschen Baustellen‹ als Unterzeile.«
»Doch unglücklicherweise ist Ihr Informant abgestürzt.«
»Und am selben Tag mein Tonbandprotokoll verschwunden. Wissen Sie jetzt, warum wir hier in der Kirche und nicht in meinem Büro sitzen?«
»Ich ahne es. Aber was wollen Sie von mir?«
»Zusammenarbeit. Mein Wissen, Ihr Wissen, dazu den Nachweis, daß Wieczorek ermordet wurde: Dann haben Sie Ihren Fall gelöst, und ich habe eine gute Story.«
»Sagen Sie jetzt nicht Synergie-Effekt.«
»Ein häßliches Wort.«
In der Ludgerikirche begannen die Glocken zu läuten. Wir verließen das Gotteshaus. Becker als erster. Auf dem Kirchplatz verfiel er in seinen Joggertrab.
Ich blickte ihm nach, bis er
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