Der Hypnotiseur - Kepler, L: Hypnotiseur - Hypnotisören
können, wie schwer er wirklich verletzt ist. Sie weiß nur, dass der Aufprall ihn hätte umbringen können. Kopfschmerzen rollen wie eine stählerne Kugel durch ihren Kopf. Sie hat Erik verloren, sie hat unter Umständen Benjamin verloren, und nun wird sie womöglich auch noch ihren Vater verlieren.
Sie weiß nicht, wie oft sie es schon getan hat, holt sicherheitshalber aber noch einmal ihr Handy heraus, kontrolliert, dass es funktioniert, und legt es ins äußere Fach ihrer Handtasche, um schnell herankommen zu können, falls es klingelt.
Dann beugt sie sich über ihren Vater und zupft seine Decke zurecht. Er schläft, aber man hört keinen Mucks. Kennet Sträng ist wahrscheinlich der einzige Mann auf der Welt, der beim Schlafen keinen Lärm macht, das hat sie schon oft gedacht.
Seine Stirn liegt unter einem weißen Verband, unter dem ein dunkler Schatten beginnt, ein Bluterguss, der sich über die ganze Wange erstreckt. Kennet sieht verändert aus: der große Bluterguss, die geschwollene Nase und der herabhängende Mundwinkel.
Aber er ist nicht tot, denkt sie. Er lebt. Und Benjamin lebt auch, das weiß sie, er muss einfach leben.
Simone geht im Zimmer auf und ab. Sie denkt daran, dass sie vor zwei Tagen von Sim Shulman zurückgekommen war und unmittelbar vor Kennets Unfall mit ihrem Vater telefoniert hatte. Dabei hatte er ihr gesagt, dass er Wailord gefunden hatte und zu einem Ort fahren wollte, der Das Meer hieß und irgendwo auf einer Landzunge namens Loudden lag.
Simone sieht erneut ihren Vater an. Er schläft tief und fest.
»Papa?«
Sie bereut es sofort. Er wacht zwar nicht auf, aber ein gequälter Zug huscht wie eine Wolke über sein schlafendes Gesicht. Simone tastet vorsichtig die Wunde auf ihrer Unterlippe ab. Ihr Blick fällt auf einen Adventskerzenständer. Sie mustert ihre Schuhe in den blauen Plastikschützern und denkt an einen Nachmittag vor vielen Jahren zurück, an dem sie und Kennet ihre Mutter winken und in ihrem kleinen grünen Fiat verschwinden sahen.
Simone schaudert. Sie zieht die Strickjacke enger um sich. Plötzlich hört sie Kennet leise stöhnen.
»Papa«, sagt sie wie ein kleines Kind.
Er öffnet die Augen. Sie wirken trübe, nicht wirklich wach. Ein Augapfel ist blutrot.
»Papa, ich bin’s. Wie geht es dir?«
Sein Blick irrt an ihr vorbei. Auf einmal hat sie Angst, dass er sie nicht sehen kann.
»Sixan?«
»Ich bin hier, Papa.«
Sie setzt sich vorsichtig neben ihn und nimmt seine Hand. Seine Augen schließen sich wieder, und die Augenbrauen ziehen sich zusammen, als hätte er Schmerzen.
»Papa«, fragt sie leise, »wie fühlst du dich?«
Er versucht, ihre Hand zu tätscheln, schafft es aber nicht wirklich.
»Ich bin bald wieder auf den Beinen«, röchelt er. »Mach dir keine Sorgen.«
Es wird still. Simone versucht, ihre Gedanken zu verdrängen, sich von den Kopfschmerzen abzulenken und gegen die aufwallende Sorge anzukämpfen. Sie weiß nicht, ob sie es wagen kann, ihn in diesem Zustand zu bedrängen, aber ihre Panik zwingt sie, einen Versuch zu machen.
»Papa«, fragt sie leise. »Weißt du noch, worüber wir gesprochen haben, bevor du angefahren wurdest?«
Er blinzelt sie müde an und schüttelt den Kopf.
»Du hast gesagt, du wüsstest, wo Wailord ist. Du hast über das Meer gesprochen, erinnerst du dich? Du meintest, du wolltest zum Meer fahren.«
Kennets Augen leuchten auf, und er macht Anstalten, sich aufzusetzen, sinkt aber stöhnend zurück.
»Papa, sag’s mir, ich muss wissen, wo das ist. Wer ist Wailord? Wer ist das?«
Er öffnet den Mund, und sein Kinn zittert, als er flüstert:
»Ein … Kind … das ist … ein Kind …«
»Was sagst du da?«
Aber Kennet hat die Augen geschlossen und scheint sie nicht mehr zu hören. Simone geht zum Fenster und schaut auf das Krankenhausgelände hinab. Sie spürt den kalten Luftzug. Ein schmutziger Rand läuft am Glas entlang. Als sie die Scheibe anhaucht, sieht sie für einen flüchtigen Moment den Abdruck eines Gesichts im beschlagenen Glas. Jemand hat erst kürzlich an der gleichen Stelle gestanden und sich gegen das Glas gelehnt.
Die Kirche auf der anderen Straßenseite ist dunkel, und die Straßenlaternen spiegeln sich in ihren schwarzen Bogenfenstern. Sie denkt daran, dass Benjamin Aida geschrieben hat, sie dürfe Nicke nicht zum Meer lassen.
»Aida«, sagt sie leise. »Ich fahre zu Aida und rede mit ihr. Diesmal muss sie mir alles erzählen.«
Als Simone bei Aida klingelt,
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