Der Hypnotiseur - Kepler, L: Hypnotiseur - Hypnotisören
und überreicht ihm eine Akte und eine Tasse Glühwein. Er blickt zu ihrem runden, rosigen Gesicht auf. Ausnahmsweise lächelt sie ihn nicht an.
»Sie haben das Kind identifiziert«, erklärt sie kurz und zeigt auf die Akte.
»Danke«, sagt Joona.
Zwei Dinge hasse ich wirklich, denkt er und betrachtet die braune Pappmappe. Erstens, einen Fall aufgeben zu müssen, nicht
identifizierte Leichen, ungelöste Fälle von Vergewaltigung, Raub, Körperverletzung und Mord zu den Akten legen zu müssen. Und zweitens, allerdings auf eine völlig andere Art, wenn die ungelösten Fälle schließlich doch noch gelöst werden, denn wenn man die Antworten auf die alten Rätsel findet, geschieht es selten so, wie man es sich gewünscht hätte.
Joona Linna öffnet die Akte und liest. Die Kinderleiche, die sie in Lydia Evers Garten gefunden haben, war ein Junge. Als er umgebracht wurde, war er fünf Jahre alt. Todesursache war eine Schädelfraktur als Folge eines Schlags mit einem stumpfen Gegenstand. Außerdem hat man am Skelett eine Reihe von verheilten und halb verheilten Verletzungen gefunden, die auf wiederholte Misshandlungen gröberer Art schließen lassen. »Prügel?«, hat der Rechtsmediziner notiert. Die Misshandlungen sind so schwer gewesen, dass sie Knochenbrüche und -absplitterungen verursacht haben. Vor allem Rücken und Arme scheinen Gewalteinwirkungen durch einen schweren Gegenstand ausgesetzt gewesen zu sein. Diverse Mangelerscheinungen an den Knochen deuten zudem darauf hin, dass das Kind Hunger gelitten hat.
Joona blickt kurz aus dem Fenster. An so etwas kann er sich einfach nicht gewöhnen, und er hat sich geschworen, sollte jemals der Tag kommen, an dem er sich daran gewöhnt, wird er seinen Job aufgeben. Er fährt sich mit der Hand durch die dichten Haare, schluckt schwer und liest weiter.
Das Kind konnte identifiziert werden. Der Junge hieß Johan Samuelsson und wurde vor dreizehn Jahren als vermisst gemeldet. Seine Mutter, Isabella Samuelsson, hatte sich nach eigener Aussage mit ihrem Sohn im Garten aufgehalten, als im Haus das Telefon klingelte. Sie hatte den Jungen nicht mitgenommen, als sie zum Telefon ging, und während der zwanzig, dreißig Sekunden, die es dauerte, den Hörer abzuheben, festzustellen, dass sich niemand meldete, und wieder aufzulegen, war das Kind dann verschwunden.
Johan war zwei, als er verschwand.
Er war fünf, als er getötet wurde.
Danach lagen seine sterblichen Überreste zehn Jahre lang in Lydia Evers’ Garten.
Der Geruch des Glühweins, der aus der Tasse aufsteigt, ist plötzlich ekelerregend. Joona steht auf und stellt das Fenster schräg. Er blickt auf den Innenhof des Polizeipräsidiums hinunter, die kahlen Äste und Zweige vor dem Untersuchungsgefängnis, den blanken, nassen Asphalt.
Drei Jahre war das Kind bei Lydia, denkt er. Drei Jahre hat sie es geheim gehalten. Drei Jahre voller Misshandlungen, Hunger und Angst.
»Bist du okay, Joona?«, fragt Anja und steckt den Kopf zur Tür herein.
»Ich fahre zu den Eltern und rede mit ihnen«, sagt er.
»Das kann doch Niklasson übernehmen«, erwidert Anja.
»Nein.«
»De Geer?«
»Das ist mein Fall«, sagt Joona. »Ich fahre …«
»Ich verstehe.«
»Könntest du in der Zwischenzeit ein paar Adressen für mich ermitteln?«
»Aber sicher, mein Kleiner«, antwortet sie lächelnd. »Natürlich.«
»Es geht um Lydia Evers, ich würde gerne wissen, wo sie sich in den letzten dreizehn Jahren aufgehalten hat.«
»Lydia Evers?«, wiederholt sie.
Als er Pelzmütze und Winterjacke anzieht und sich auf den Weg macht, um Isabella und Joakim Samuelsson mitzuteilen, dass man ihren Sohn Johan leider gefunden hat, ist er zutiefst deprimiert.
Anja ruft ihn an, als er die Stadtgrenze passiert.
»Das ging aber schnell«, sagt er und gibt sich alle Mühe, fröhlich zu klingen, was ihm jedoch nicht gelingt.
»Liebling, das ist mein Job«, zwitschert Anja.
Er hört sie Luft holen. Ein Schwarm schwarzer Vögel fliegt von einem schneebedeckten Acker auf, aus den Augenwinkeln betrachtet sehen sie aus wie schwere Tropfen. Als er an die beiden Fotos von Johan in der Akte denkt, verspürt er große Lust, laut loszufluchen. Auf dem einen Foto ist er ein herzlich lachender Junge mit abstehenden Haaren in einer Polizeiuniform. Und auf dem anderen: Knochenreste auf einem Metalltisch, die säuberlich mit Zetteln nummeriert sind.
»So eine verdammte Scheiße«, meckert er vor sich hin.
»Jetzt hör aber mal!«
»Entschuldige Anja, da
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