Der Hypnotiseur - Kepler, L: Hypnotiseur - Hypnotisören
Haltestelle angefahren, um Fahrgäste einsteigen zu lassen. Ein Taucher drang durch die vordere Tür ein und ließ das Licht seiner Lampe über die leeren Sitzreihen schweifen. Das Gewehr lag am hinteren Ende des Gangs auf dem Boden. Erst als der Taucher das Licht nach oben richtete, erblickte er Lydia. Sie war hochgetrieben und lag mit dem Rücken gegen das Busdach gepresst. Ihre Arme hingen herab, und der Hals war gebeugt. Die Gesichtshaut löste sich bereits ab. Die roten Haare wehten sanft in den Wasserbewegungen, ihr Mund war ruhig und die Augen wie im Schlaf geschlossen.
Benjamin wusste nicht, wo er sich in den ersten Tagen nach seiner Entführung befunden hatte. Möglicherweise war er in Lydias Haus gewesen oder auch bei Marek, jedenfalls war er von dem starken Betäubungsmittel noch so benebelt gewesen, dass er kaum begriffen hatte, was mit ihm geschah. Vielleicht hatte er auch weitere Spritzen bekommen, als er langsam wach wurde. Die ersten Tage waren einfach weg.
Zu Bewusstsein gekommen war er erst im Auto auf dem Weg nach Norden. Er hatte sein Handy gefunden und Erik angerufen, ehe er erwischt wurde. Wahrscheinlich hatten sie im Wagen seine Stimme gehört.
Dann folgten die langen und schlimmen Tage, aber Erik und Simone gelang es nicht, ihm mehr als Bruchstücke zu entlocken. Im Grunde erfuhren sie lediglich, dass er mit einer Hundeleine um den Hals auf dem Fußboden gelegen hatte. Seinem Zustand bei der Einlieferung ins Krankenhaus nach zu urteilen, hatte er seit Tagen nichts mehr zu essen oder zu trinken bekommen. An einem Fuß hatte er sich leichte Erfrierungen zugezogen, die aber verheilen würden. Jussi und Annbritt hatten ihm geholfen, sodass er schließlich fliehen konnte, erzählte er und schwieg eine Weile. Dann meinte er, Jussi habe ihn gerettet, als er versuchte, zu Hause anzurufen, und er sei in den Schnee hinausgerannt und habe Annbritt schreien gehört, als Lydia ihr die Nase abschnitt. Er hatte sich in einem der Busse versteckt und in alte Teppiche und eine schimmelige Decke gewickelt, was ihn vor dem Erfrieren gerettet hatte. Auf dem Fahrersitz war er zusammengekauert eingeschlafen und Stunden später aufgewacht, als er die Stimmen seiner Eltern hörte.
»Ich wusste nicht, dass ich noch lebte«, flüsterte Benjamin.
Dann hatte er jedoch Mareks Drohungen gehört und erkannt, dass der Schlüssel steckte. Ohne darüber nachzudenken, was er da tat, hatte er versucht, das Fahrzeug zu starten, gesehen, dass die Scheinwerfer angingen und gehört, dass der Motor aufheulte, als er auf die Stelle zufuhr, an der er Marek vermutete.
Benjamin verstummte, und große Tränen hingen in seinen Wimpern. Nach zwei Tagen im Krankenhaus war er wieder so weit bei Kräften, dass er gehen konnte. Er begleitete Erik und Simone, die Joona Linna in der chirurgischen Station besuchen wollten. Die Schere hatte seinen Oberschenkel übel zugerichtet, aber nach drei Wochen Bettruhe würde er vermutlich wieder völlig gesund sein. Eine schöne Frau mit einem lockeren blonden Zopf auf der Schulter saß bei ihm und las ihm aus einem Buch vor. Sie stellte sich als Disa vor, seit vielen Jahren Joonas Freundin.
»Wir sind in einem Lesezirkel, da muss ich doch dafür sorgen, dass er auf dem Laufenden bleibt«, erklärte Disa auf Finnlandschwedisch und legte das Buch weg.
Simone sah, dass sie Virginia Woolfs Zum Leuchtturm las.
»Die Bergwacht hat mir eine kleine Wohnung zur Verfügung gestellt«, sagte Disa lächelnd.
»Ab dem Flughafen bekommt ihr eine Polizeieskorte«, sagte Joona zu Erik.
Simone und Erik versuchten, das Angebot dankend abzulehnen. Sie hatten das Bedürfnis, mit ihrem Sohn allein zu sein, und wollten keine Polizisten mehr sehen. Als am vierten Tag bei der Visite beschlossen wurde, Benjamin zu entlassen, besorgte Simone sofort Flugtickets und zog anschließend los, um Kaffee zu holen, aber die Krankenhauscafeteria war zum ersten Mal geschlossen. Auf der Station gab es nur eine Karaffe mit Apfelsaft und ein paar Scheiben Knäckebrot. Sie verließ das Gebäude, um ein Café zu suchen, aber alles schien seltsam verlassen und geschlossen zu sein. Eine wohltuende Ruhe lag über der Stadt. Sie blieb vor einem Eisenbahngleis stehen und folgte ihm mit den Augen. In der Ferne erahnte sie in der Dunkelheit den breiten, von weißem Eis und schwarzem glitzerndem Wasser gestreiften Umefluss.
Erst in diesem Moment entspannte sie sich ein wenig. Sie dachte, dass es vorbei war. Sie hatten Benjamin
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