Der Idiot
Prokofjewna war eine heißblütige, leidenschaftliche Dame,
so daß sie manchmal plötzlich, ohne lange zu überlegen, alle Anker
lichtete und, unbekümmert um das Wetter, aufs hohe Meer hinausfuhr.
Iwan Fjodorowitsch bewegte sich unruhig hin und her. Aber während alle
im ersten Augenblick unwillkürlich starr waren und verwundert warteten,
was da kommen werde, hatte Kolja die Zeitschrift auseinandergeschlagen
und begann nun, laut von der Stelle an zu lesen, die ihm der
hinzuspringende Lebedjew zeigte:
»Proletarier und Edelinge. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit!
Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor,
im Zeitalter der Reformen und der unternehmungslustigen
Aktiengesellschaften, in dem Zeitalter des Nationalgefühls und der
jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, in dem
Zeitalter der Beschützung des Handwerks und der Lähmung der arbeitenden
Hände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen,
meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine
sonderbare Geschichte mit einem der edlen Sprößlinge unseres ehemaligen
Gutsherrnstandes (de profundis!) zugetragen, mit einem jener
Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, und
deren Väter sich genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen,
und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits
bei den Staatsgeldern starben, und die dann selbst, wie der Held
unserer Erzählung, entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in
Kriminalprozesse hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer
Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen
zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten
loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich
schon hinreichend schmählichen Zeitalter zur Schande gereichen. Unser
junger Edeling kehrte vor einem halben Jahr, mit ausländischen
Gamaschen angetan und in einem ungefütterten Mäntelchen vor Kälte
zitternd, im Winter nach Rußland aus der Schweiz zurück, wo er eine Kur
gegen seine Idiotie durchgemacht hatte (sic!). Man muß bekennen, daß er
Glück hatte; denn (wir reden noch gar nicht von seiner interessanten
Krankheit, von der er sich in der Schweiz kurieren ließ; aber ist denn
Idiotie überhaupt heilbar? Stellen Sie sich das nur einmal vor?!!) er
konnte an seiner Person die Wahrheit des russischen Sprichworts
beweisen: ›Eine gewisse Sorte von Menschen hat immer Glück!‹ Urteilen
Sie selbst: nach dem Tod seines Vaters, der, wie es heißt, als Leutnant
in der Untersuchungshaft gestorben war, weil er im Kartenspiel die
ganzen Kompaniegelder verloren oder vielleicht auch einem Untergebenen
eine übermäßige Portion Rutenhiebe hatte verabreichen lassen (vergessen
Sie nicht, meine Herren, das war in der alten Zeit), wurde unser Baron,
der als Säugling zurückgeblieben war, aus Barmherzigkeit von einem sehr
reichen russischen Gutsbesitzer aufgezogen. Dieser russische
Gutsbesitzer (nennen wir ihn P.!) besaß in jener alten goldenen Zeit
viertausend leibeigene Seelen (leibeigene Seelen! verstehen Sie diesen
Ausdruck, meine Herren? Ich verstehe ihn nicht. Man muß erst das
Konversationslexikon befragen; ›nicht lang ist's her, und doch ist's
kaum zu glauben‹ 1 )
und war offenbar einer jener russischen Nichtstuer und Tagediebe, die
ihr müßiges Leben im Ausland verbrachten, im Sommer in den Badeorten
und im Winter im Pariser Château des fleurs, wo sie seinerzeit enorme
Summen zurückließen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß mindestens
ein Drittel des gesamten in der früheren Zeit der Leibeigenschaft
gezahlten Pachtzinses in die Tasche des Besitzers des Pariser Château
des fleurs floß (war das ein glücklicher Mensch!). Wie dem auch gewesen
sein mag, jedenfalls ließ der sorglose P. dem verwaisten jungen Herrn
eine fürstliche Erziehung zuteil werden und hielt ihm Erzieher und
Gouvernanten (ohne Zweifel hübsche), die er bei Gelegenheit selbst aus
Paris mitbrachte. Aber der junge Edeling, der Letzte seines
Geschlechtes, war ein Idiot. Die Gouvernanten aus dem Château des
fleurs konnten ihm nicht helfen, und bis zum zwanzigsten Lebensjahr
vermochte ihr Zögling keine einzige Sprache zu sprechen, nicht einmal
die russische. Letzteres ist übrigens verzeihlich. Endlich bildete sich
in P.s russischem Gutsherrnkopf die Vorstellung, man könne einem
Idioten in
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