Der Idiot
in
den Park hinein; er wollte nachdenken und über einen wichtigen Schritt
ins klare kommen. Aber dieser Schritt war nicht einer von denen, die
man überlegt, sondern zu denen man sich ohne Überlegung einfach
entschließt: es hatte ihn auf einmal ein heftiges Verlangen ergriffen,
alles, was ihn hier umgab, zu verlassen, dahin zurückzukehren, von wo
er gekommen war, irgendwohin, recht weit weg, in die Einsamkeit zu
fahren, und zwar sofort, ohne auch nur von jemand Abschied zu nehmen.
Er sah vorher, daß, wenn er hier auch nur noch ein paar Tage bliebe, er
mit Sicherheit unwiederbringlich in diese Welt werde hineingezogen
werden, und daß es dann künftig sein Los sein werde, ganz in ihr
aufzugehen. Aber er hatte noch nicht zehn Minuten darüber nachgedacht,
als er zu der Einsicht gelangte, daß es unzulässig sei, so
davonzulaufen; daß das Kleinmut sein würde; daß ihm Aufgaben gestellt
seien, deren Erfüllung abzulehnen er jetzt in keiner Weise berechtigt
sei; daß er sich jedenfalls nicht weigern dürfe, zu ihrer Erfüllung all
seine Kräfte anzustrengen. Mit solchen Gedanken beschäftigt, kehrte er
nach Hause zurück, nachdem er kaum eine Viertel stunde
spazierengegangen war. Er fühlte sich in diesem Augenblick tief
unglücklich.
Lebedjew war immer noch nicht zu Hause, so daß gegen Abend Keller
die Gelegenheit benutzte, zum Fürsten einzudringen; er war zwar nicht
betrunken, aber sehr zu Herzensergießungen und Bekenntnissen geneigt.
Er erklärte geradeheraus, er sei gekommen, um dem Fürsten sein ganzes
Leben zu erzählen, und sei speziell zu diesem Zweck in Pawlowsk
geblieben. Ihn hinauszujagen, war schlechterdings unmöglich; er wäre
unter keinen Umständen gegangen. Keller setzte zu einer sehr langen,
sehr abgeschmackten Erzählung an, sprang aber gleich von den ersten
Worten zum Schluß hinüber, indem er erklärte, er habe dermaßen »jeden
Schatten von Moralität« verloren (einzig und allein infolge mangelnden
Glaubens an die Existenz Gottes), daß er sogar gestohlen habe.
»Können Sie sich das vorstellen?«
»Hören Sie mal, Keller, ich würde das an Ihrer Stelle ohne besondere
Not lieber nicht bekennen«, erwiderte der Fürst. »Aber vielleicht
wollen Sie sich absichtlich verleumden?«
»Ihnen, einzig und allein Ihnen sage ich es, und einzig und allein,
um meine sittliche Entwicklung zu fördern. Keinem andern werde ich es
sagen; ich werde mein Geheimnis, wenn ich sterbe, unter meinem
Totenhemd mitnehmen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, wenn Sie nur wüßten,
wie schwer es in unserer Zeit ist, Geld zu bekommen! Woher soll
unsereiner welches nehmen? wenn Sie mir die Frage gestatten wollen. Ich
bekam immer ein und dieselbe Antwort: ›Bringen Sie uns Goldsachen und
Brillanten als Pfand, dann werden wir Ihnen Geld geben‹; aber das waren
gerade die Dinge, die ich nicht hatte. Können Sie sich so etwas
vorstellen? Ich wurde schließlich ärgerlich und stand da und zauderte.
›Geben Sie auch für Smaragde Geld?‹ fragte ich. – ›Ja, auch für
Smaragde‹, antwortete er. – ›Nun, das ist ja vorzüglich!‹ erwiderte
ich, setzte meinen Hut auf und ging weg; hol euch der Teufel, ihr
nichtswürdigen Schurken!«
»Hatten Sie denn Smaragde?«
»Woher hätte ich denn Smaragde haben sollen? O Fürst, was haben Sie
noch für eine sonnige, unschuldige, ja sozusagen idyllische
Lebensanschauung!«
Es kam schließlich so heraus, daß der Fürst ihn nicht sowohl
bemitleidete als vielmehr sich für ihn schämte. Es ging ihm sogar der
Gedanke durch den Kopf: »Könnte nicht aus diesem Menschen noch etwas
Ordentliches werden, wenn jemand einen guten Einfluß auf ihn ausübte?«
Seinen eigenen Einfluß hielt er aus gewissen Gründen für sehr
ungeeignet, nicht weil er von sich selbst zu gering gedacht hätte,
sondern wegen seiner besonderen Art, die Dinge anzuschauen. Allmählich
kamen sie beide so eifrig ins Gespräch hinein, daß sie sich gar nicht
mehr voneinander trennen mochten. Keller bekannte mit einer seltenen
Offenherzigkeit von sich Dinge, von denen man nicht begreifen konnte,
wie er es fertigbrachte, sie zu erzählen. Jedesmal, wenn er sich zu
einer solchen Erzählung anschickte, versicherte er hoch und heilig, er
empfinde Reue und sei »innerlich voll Tränen«; aber trotzdem erzählte
er in einer Weise, als sei er auf sein Benehmen stolz, und zugleich
manchmal so komisch, daß er und der Fürst schließlich wie die
Unsinnigen lachten.
»Die Hauptsache ist, daß Sie sich eine kindliche
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