Der Idiot
angefangen, ja sogar den Begriff als einen
nichtigen und schädlichen ausgemerzt und entfernt. Das ist eine sichere
Tatsache, die ich verbürgen kann ... es muß doch einmal die Wahrheit
vollständig, schlicht und aufrichtig ausgesprochen werden. Ein solches
Verhalten des Liberalismus ist aber seit Menschengedenken nie und bei
keinem Volk vorgekommen, und es mag daher etwas Zufälliges sein und
vielleicht vorübergehen, das will ich zugeben. Ein Liberaler, der einen
Haß auf sein eigenes Vaterland hätte, ist in keinem andern Land
möglich. Wodurch läßt sich nun diese Erscheinung bei uns erklären?
Durch denselben Gedanken, den ich schon vorhin aussprach: dadurch, daß
der Liberale in Rußland vorläufig noch nicht ein russischer Liberaler
ist; meiner Ansicht nach ist das die einzig mögliche Erklärung.«
»Ich fasse alles, was du gesagt hast, als Scherz auf, Jewgeni Pawlowitsch«, bemerkte Fürst Schtsch. in ernstem Ton.
»Ich habe nicht alle Liberalen kennengelernt und erlaube mir daher
kein Urteil«, sagte Alexandra Iwanowna. »Aber ich bin über Ihre
Darlegung ganz empört; Sie haben einen vereinzelten Fall genommen und
eine allgemeine Regel daraus gemacht; Sie haben folglich verleumdet.«
»Einen vereinzelten Fall? Ah, ah! Das ist ein wichtiger Ausdruck,
den Sie da gebraucht haben!« versetzte Jewgeni Pawlowitsch. »Wie denken
Sie darüber, Fürst? Ist es ein vereinzelter Fall oder nicht?«
»Ich muß ebenfalls bekennen, daß ich nur wenige Liberale
kennengelernt und nur wenig mit ihnen verkehrt habe«, antwortete der
Fürst. »Aber es scheint mir, daß Sie vielleicht bis zu einem gewissen
Grade recht haben, und daß dieser russische Liberalismus, von dem Sie
gesprochen haben, tatsächlich teilweise dazu neigt, Rußland selbst zu
hassen und nicht nur dessen Einrichtungen. Natürlich wird das nur
teilweise zutreffen und kann gerechterweise nicht von allen Liberalen
gesagt werden.«
Er stockte und sprach seine Gedanken nicht weiter aus. Trotz all
seiner Aufregung war ihm das Gespräch sehr interessant. Einen
besonderen Charakterzug bildete bei ihm die große Naivität, mit der er
immer zuhörte, wenn ihn etwas interessierte, und die nicht mindere
Naivität, mit der er antwortete, wenn dabei Fragen an ihn gerichtet
wurden. Diese Naivität, dieses Vertrauen, das keinen Spott und keine
scherzhafte Erwiderung von seiten des andern befürchtete, spiegelten
sich in seinem Gesicht wider und kamen sogar in seiner Körperhaltung
zum Ausdruck. Aber obgleich Jewgeni Pawlowitsch sich sonst immer nur
mit einem besonderen Lächeln an ihn wendete, so blickte er ihn jetzt
bei dieser Antwort doch sehr ernst an, als ob er eine solche Antwort
von ihm in keiner Weise erwartet hätte.
»So ...! aber das ist doch seltsam«, sagte er. »War diese Antwort wirklich ernst gemeint, Fürst?«
»Hatten Sie denn nicht im Ernst gefragt?« erwiderte dieser erstaunt.
Alle lachten.
»Trauen Sie dem!« sagte Adelaida. »Jewgeni Pawlowitsch hat immer
alle Leute zum besten! Wenn Sie wüßten, was für Dinge er manchmal mit
dem größten Ernst erzählt!«
»Meiner Ansicht nach ist das Gespräch peinlich, und wir hätten es
gar nicht anfangen sollen«, bemerkte Alexandra in scharfem Ton. »Wir
wollten doch spazierengehen ...«
»Gehen wir! Der Abend ist wunderschön!« rief Jewgeni Pawlowitsch.
»Aber um Ihnen zu beweisen, daß ich dieses Mal ganz ernst geredet habe,
und namentlich um es dem Fürsten zu beweisen (Sie interessieren mich
außerordentlich, Fürst, und ich schwöre Ihnen: ein so oberflächlicher
Mensch, wie es notwendigerweise den Anschein hat, bin ich denn doch
nicht, wiewohl ich wirklich oberflächlich bin!), zu diesem Zweck, meine
Herrschaften, möchte ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis dem Fürsten noch
eine letzte Frage vorlegen, aus reiner Neugier, und damit wollen wir
dann die Sache abgetan sein lassen. Diese Frage ist mir, was sich sehr
gut trifft, vor zwei Stunden in den Kopf gekommen (sehen Sie wohl,
Fürst, auch ich denke manchmal über ernste Dinge nach); ich habe sie
mir beantwortet; aber wir wollen sehen, was der Fürst dazu sagt. Es war
soeben von einem ›vereinzelten Fall‹ die Rede. Dieser Ausdruck hat bei
uns in Rußland eine große Wichtigkeit erlangt, und man hört ihn recht
oft. Neulich redeten und schrieben alle Leute von jenem schrecklichen
Mord, den ein junger Mann an sechs Menschen begangen hatte, und von der
seltsamen Rede des Verteidigers, in der dieser gesagt hatte, dem
Verbrecher habe bei seinen
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