Der Idiot
ärmlichen Verhältnissen ›naturgemäß‹ der
Gedanke in den Kopf kommen müssen, diese sechs Menschen zu ermorden.
Das war wohl nicht der Wortlaut, aber der Sinn war doch dieser oder ein
ähnlicher. Meiner persönlichen Ansicht nach war der Verteidiger, als er
diese sonderbare Anschauung vorbrachte, der festen Überzeugung, den
liberalsten, humansten, fortschrittlichsten Gedanken ausgesprochen zu
haben, den man nur überhaupt in unserer Zeit äußern kann. Nun also, wie
verhält es sich damit Ihrer Ansicht nach: ist diese Verdrehung der
Begriffe und Meinungen, die Möglichkeit einer so merkwürdig schiefen
Auffassung der Sache ein vereinzelter Fall oder die Regel?«
Alle lachten.
»Ein vereinzelter Fall; selbstverständlich ein vereinzelter Fall!« riefen Alexandra und Adelaida lachend.
»Mit deiner Erlaubnis möchte ich dich daran erinnern, Jewgeni
Pawlowitsch«, fügte Fürst Schtsch. hinzu, »daß dein Scherz schon sehr
abgenutzt ist.«
»Wie denken Sie darüber, Fürst?« fragte, ohne darauf hinzuhören,
Jewgeni Pawlowitsch, welcher wahrnahm, daß ihn Fürst Ljow
Nikolajewitsch mit ernstem Interesse anblickte. »Was meinen Sie: war
das ein vereinzelter Fall oder die Regel? Ich muß bekennen, daß ich mir
diese Frage speziell für Sie zurechtgelegt habe.«
»Nein, das war kein vereinzelter Fall«, antwortete der Fürst leise, aber mit fester Stimme.
»Aber ich bitte Sie, Ljow Nikolajewitsch«, rief Fürst Schtsch. ein
wenig ärgerlich; »sehen Sie denn nicht, daß er Ihnen eine Falle stellt?
Er lacht sicher innerlich und beabsichtigt, sich gerade über Sie lustig
zu machen.«
»Ich glaubte, Jewgeni Pawlowitsch spräche im Ernst«, versetzte der Fürst errötend und schlug die Augen nieder.
»Lieber Fürst«, fuhr Fürst Schtsch. fort, »denken Sie doch an ein
Gespräch, das wir beide einmal vor drei Monaten führten; wir sprachen
namentlich darüber, daß sich bei unseren jungen, neu eröffneten
Gerichten bereits so viele beachtenswerte, talentvolle Verteidiger
finden. Und wie viele im höchsten Grade beachtenswerte Urteile sind von
unseren Geschworenen gefällt worden? Wie haben Sie selbst sich gefreut,
und wie habe ich mich damals über Ihre Freude gefreut ...! Wir sagten,
daß wir Anlaß hätten, stolz zu sein ... Aber diese ungeschickte
Verteidigung, dieses sonderbare Argument ist sicherlich nur etwas
Zufälliges, ein vereinzelter Fall unter Tausenden.«
Fürst Ljow Nikolajewitsch dachte einen Augenblick nach, antwortete
aber dann mit der Stimme festester Überzeugung, wenn auch leise und
gewissermaßen schüchtern: »Ich wollte nur sagen, daß diese Entstellung
der Gedanken und Begriffe (wie sich Jewgeni Pawlowitsch ausdrückte)
sehr häufig begegnet und leider viel weiter verbreitet ist, als daß man
sie einen vereinzelten Fall nennen könnte. Dermaßen, daß, wenn diese
Entstellung nicht ein so häufiger Fall wäre, es vielleicht auch nicht
so unerhörte Verbrechen geben würde wie diese ...«
»Unerhörte Verbrechen? Aber ich versichere Ihnen, daß genau
ebensolche Verbrechen und vielleicht noch schauderhaftere auch früher
vorgekommen sind, immer vorgekommen sind, und nicht nur bei uns,
sondern überall, und daß sie meines Erachtens sich noch sehr lange
wiederholen werden. Der Unterschied besteht nur darin, daß sie früher
weniger publik wurden, während man jetzt angefangen hat, laut von ihnen
zu reden und sogar zu schreiben; daher gewinnt es nun den Anschein, als
seien solche Verbrecher erst jetzt aufgetreten. Darin besteht Ihr
Irrtum, ein sehr naiver Irrtum, Fürst, das versichere ich Ihnen«, sagte
Fürst Schtsch. lächelnd.
»Ich weiß selbst, daß die Verbrechen auch früher sehr zahlreich und
ebenso schrecklich waren; ich habe erst kürzlich mehrere Gefängnisse
besucht, und es ist mir dabei gelungen, mit einer Anzahl von
Verbrechern und Angeklagten bekannt zu werden. Es gibt sogar noch
furchtbarere Verbrecher als jener junge Mann, Verbrecher, von denen ein
jeder zehn Menschen ermordet hat, ohne nachher irgendwelche Reue zu
verspüren. Aber ein Punkt ist mir dabei aufgefallen: der verstockteste
Mörder, der keine Reue empfindet, weiß doch, daß er ein Verbrecher ist,
das heißt, er urteilt seinem Gewissen nach, daß er schlecht gehandelt
hat, wiewohl er nichts von Reue weiß. So denkt jeder von ihnen; aber
diejenigen, von denen Jewgeni Pawlowitsch gesprochen hat, wollen sich
nicht für Verbrecher halten und meinen, sie hätten ein Recht gehabt und
... hätten sogar gut gehandelt;
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