Der Idiot
nacht
schlafen?«
»Wie jede Nacht, Fürst.«
»Nun, dann wünsche ich Ihnen angenehme Träume! Haha!«
Der Fürst ging quer über die Straße und verschwand im Park; Keller
blieb sehr verwundert und nachdenklich stehen. Er hatte den Fürsten
noch nie in einem so sonderbaren Zustand gesehen und ihn sich bisher
auch nicht in einem solchen vorstellen können.
»Vielleicht fiebert er; denn er ist ein nervöser Mensch, und das
alles hat eine starke Wirkung auf ihn ausgeübt; aber feige ist er gewiß
nicht. Gerade solche Leute sind nicht feige, weiß Gott!« dachte Keller
bei sich. »Hm! Champagner! Das ist doch eine sehr interessante
Mitteilung. Zwölf Flaschen, ein Dutzend; das läßt sich hören; eine
ordentliche Batterie! Ich möchte wetten, daß Lebedjew den Champagner
von irgend jemand als Pfand bekommen hat. Hm ...! er ist aber doch
recht liebenswürdig, dieser Fürst; wirklich, ich habe solche Menschen
gern; aber es ist keine Zeit zu verlieren, und ... wenn Champagner da
ist, so ist das gerade die richtige Zeit ...«
Daß der Fürst sich in einem fieberhaften Zustand befand, das war natürlich ganz richtig.
Er schweifte lange im dunklen Park umher und wurde sich endlich
seiner selbst bewußt, wie er in einer Allee auf und ab ging. In seinem
Gedächtnis haftete die Erinnerung, daß er in dieser Allee, von einer
Bank angefangen bis zu einem alten, hohen, auffallenden, nur hundert
Schritte von ihr entfernten Baum, bereits etwa dreißig- bis vierzigmal
hin und her gegangen war. Sich zu erinnern, was er in dieser Zeit von
mindestens einer ganzen Stunde im Park gedacht hatte, war er
außerstande, selbst wenn er es gewollt hätte. Er ertappte sich übrigens
auf einem Gedanken, der ihn veranlaßte, plötzlich in ein herzliches
Gelächter auszubrechen; es war zwar eigentlich kein Grund zum Lachen
vorhanden; aber er hatte jetzt immer Lust zu lachen. Es war ihm
eingefallen, daß die Idee von einem bevorstehenden Duell auch noch in
einem andern Kopf als nur in dem Kellers hatte entstehen können, und
daß daher die Geschichte vom Pistolenladen vielleicht nicht zufällig
gewesen war ... »Ah!« dachte er und blieb, von einem andern Gedanken
erleuchtet, stehen, »vorhin kam sie nach der Veranda herunter, als ich
in der Ecke saß, und wunderte sich gewaltig, mich dort zu finden, und
lachte so und fing an vom Teetrinken zu reden; und doch hatte sie in
diesem Augenblick schon diesen Zettel in der Hand; folglich wußte sie
unbedingt, daß ich in der Veranda saß. Warum tat sie denn also so
erstaunt? Hahaha!«
Er zog den Zettel aus der Tasche und küßte ihn, blieb dann aber sogleich stehen und versank in Gedanken.
»Wie sonderbar das ist! Wie sonderbar das ist!« sagte er ein
Weilchen darauf sogar mit einer Art von Traurigkeit: in Augenblicken
einer starken Freudenempfindung wurde er stets traurig, er wußte selbst
nicht woher. Er schaute aufmerksam um sich und wunderte sich, daß er
hierher geraten war. Er war sehr müde, ging zu der Bank und setzte sich
darauf. Ringsum herrschte tiefe Stille. Die Musik beim Bahnhof hatte
schon aufgehört. Im Park war vielleicht keine Menschenseele mehr; es
war ja auch schon mindestens halb zwölf. Es war eine stille, warme,
helle Nacht, so eine echte Petersburger Nacht zu Anfang Juni; aber in
dem dichten, schattigen Park und in der Allee, in der er sich befand,
war es fast schon ganz dunkel. Wenn ihm jemand in diesem Augenblick
gesagt hätte, daß er verliebt, leidenschaftlich verliebt sei, so würde
er diesen Gedanken erstaunt und vielleicht sogar entrüstet
zurückgewiesen haben. Und wenn jemand hinzugefügt hätte, daß Aglajas
Zettelchen ein Liebesbrief sei, die Aufforderung zu einem
Liebes-Rendezvous, so würde er sich für ihn in tiefster Seele geschämt
und ihn vielleicht zum Duell gefordert haben. Diese seine ganze
Anschauung war völlig aufrichtig und durch keinerlei Zweifel getrübt,
und er lehnte jede Spur eines »doppelten« Gedankens an die Möglichkeit
der Liebe eines solchen Mädchens zu ihm oder gar an die Möglichkeit
seiner Liebe zu diesem Mädchen entschieden ab. Eines solchen Gedankens
hätte er sich geschämt: die Annahme, daß sie ihn, »einen solchen
Menschen, wie er«, lieben könne, hätte er für ungeheuerlich gehalten.
Seiner Vorstellung nach handelte es sich von ihrer Seite einfach um
Mutwillen, wenn überhaupt etwas dahintersteckte; aber er fand diese
Voraussetzung ganz naturgemäß und regte sich über diesen
vorausgesetzten Mutwillen nicht auf; etwas ganz
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