Der Idiot
Sohn
hinzugehen, ihn aufzuwecken und ihm mitzuteilen, wie außerordentlich
gefährlich Herrn Ferdyschtschenkos Nachbarschaft sei! Was muß, danach
zu urteilen, Herr Ferdyschtschenko für ein gefährlicher Mensch sein,
und wie groß die väterliche Besorgnis Seiner Exzellenz, hehehe ...!«
»Hören Sie, Lebedjew«, sagte der Fürst, der äußerst verlegen
geworden war, »hören Sie, gehen Sie sachte zu Werk! Führen Sie keinen
Skandal herbei! Ich bitte Sie, Lebedjew, ich beschwöre Sie ...! Wenn
Sie das tun, dann verspreche ich, Ihnen behilflich zu sein; aber
niemand darf davon wissen, niemand darf davon wissen!«
»Seien Sie überzeugt, großmütigster, offenherzigster und edelster
Fürst«, rief Lebedjew geradezu begeistert, »seien Sie überzeugt, daß
all dies in meinem edelgesinnten Herzen tot und begraben sein wird!
Lassen Sie uns mit leisen Schritten gemeinsam vorgehen! Mit leisen
Schritten und gemeinsam! Ich meinerseits bin sogar bereit, mein ganzes
Blut ... Durchlauchtigster Fürst, ich bin an Seele und Geist ein
gemeiner Mensch; aber fragen Sie einen jeden, selbst einen Schurken,
nicht nur einen gemeinen Menschen, mit wem er lieber zu tun haben mag,
ob mit einem ebensolchen Schurken, wie er, oder mit einem so überaus
edeldenkenden Menschen, wie Sie, offenherzigster Fürst. Er wird Ihnen
antworten: ›Mit einem so überaus edeldenkenden Menschen‹, und das wird
ein Triumph der Tugend sein! Auf Wiedersehen, hochgeehrter Fürst! Mit
leisen Schritten ... mit leisen Schritten und ... gemeinsam.«
X
Endlich hatte der Fürst verstanden, warum ihn jedesmal ein kalter
Schauer überlief, wenn er diese drei Briefe anrührte, und warum er
deren Lektüre bis zum Abend verschob. Als er noch am Vormittag, ohne
daß er sich hätte dazu entschließen können, aus einem dieser drei
Kuverts einen Brief herauszunehmen, auf seiner Chaiselongue in einem
schweren Schlaf gesunken war, da hatte er wieder einen beängstigenden
Traum, und es kam wieder dieselbe »Verbrecherin« zu ihm. Sie sah ihn
wieder mit Augen an, in deren langen Wimpern Tränen funkelten, und rief
ihn wieder zu sich, und als er erwachte, erinnerte er sich wieder wie
bei jenem früheren Traum an ihr Gesicht. Er wollte schon sofort zu ihr
gehen; aber er vermochte es nicht; endlich, fast in Verzweiflung,
entfaltete er die Briefe und begann sie zu lesen. Diese Briefe hatten
ebenfalls Ähnlichkeit mit einem Traum. Manchmal träumen wir seltsame
Dinge, unmögliche, unnatürliche Dinge; wenn wir aufgewacht sind,
erinnern wir uns deutlich an das Geträumte und wundern uns über diese
merkwürdige Tatsache. Wir erinnern uns vor allem daran, daß der
Verstand während der ganzen Dauer des Traums seine Tätigkeit nicht
eingestellt hat; wir erinnern uns sogar, daß wir außerordentlich listig
und klug in der langen, langen Zeit verfahren sind, als uns die Mörder
umringten, als sie uns zu überlisten suchten, ihre Absicht verbargen,
sich gegen uns freundschaftlich benahmen, während sie doch schon die
Waffe bereit hielten und nur auf ein Zeichen warteten; wir erinnern
uns, wie listig wir sie endlich täuschten und uns vor ihnen
versteckten; wie wir aber dann merkten, daß sie diese ganze Täuschung
durchschauten und sich nur stellten, als ob sie nicht wüßten, wo wir
uns versteckt hätten; wie wir sie aber von neuem listig betrogen; an
all das erinnern wir uns deutlich. Aber warum konnte denn unser
Verstand sich gleichzeitig mit all den augenscheinlichen Absurditäten
und Unmöglichkeiten abfinden, mit denen neben andern Dingen der Traum
angefüllt war? Einer der Mörder verwandelte sich vor unseren Augen in
eine Frau und aus der Frau in einen kleinen, listigen, häßlichen Zwerg,
und wir nahmen all dies ohne weiteres als vollendete Tatsache hin, fast
ohne die geringste Verwunderung, und zwar gerade zu der Zeit, wo auf
der andern Seite unser Verstand auf das angestrengteste arbeitete und
eine außerordentliche Stärke, Schlauheit, Fassungskraft und Logik
bewies. Und ferner, warum fühlen wir, wenn wir von einem Traum
aufwachen und schon wieder ganz in die Wirklichkeit zurückkehren, fast
jedesmal und manchmal mit außerordentlicher Stärke dieser Empfindung,
daß wir zu gleich mit dem Traum etwas hinter uns lassen, was uns
rätselhaft ist? Wir lächeln über die Absurdität unseres Traumes und
fühlen gleichzeitig, daß in dem Geflecht dieser Absurditäten ein
Gedanke enthalten ist, aber ein wirklicher Gedanke, etwas, was zu
unserem wirklichen Leben gehört, etwas,
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