Der Idiot
was in unserem Herzen existiert
und immer darin existiert hat; unser Traum hat uns gewissermaßen etwas
Neues, Prophetisches, von uns Erwartetes gesagt; der davon empfangene
Eindruck ist ein starker, je nachdem ein freudiger oder peinlicher;
aber worin er besteht, und was uns eigentlich gesagt worden ist, das
können wir nicht begreifen, und daran können wir uns nicht erinnern.
Fast dasselbe fand nach der Lektüre dieser Briefe statt. Aber noch
ehe der Fürst sie entfaltet hatte, hatte er gemerkt, daß schon die
bloße Tatsache ihrer Existenz, die Möglichkeit ihrer Existenz auf ihn
eine ähnliche Wirkung ausübte wie ein bedrückender Traum. Wie hatte sie sich dazu entschließen können, an sie zu
schreiben? fragte er sich immer wieder, als er am Abend allein
umherirrte (er wußte mitunter selbst nicht, wo er ging). Wie hatte sie das schreiben können, und wie hatte ein so sinnloser
Gedanke in ihrem Kopf entstehen können? Aber dieser sinnlose Gedanke
hatte bereits Gestalt gewonnen, und das Verwunderlichste war für ihn,
daß er während der Lektüre dieser Briefe beinahe selbst an die
Möglichkeit und sogar an die Berechtigung dieses Gedankens glaubte. Ja
gewiß, das war ein beängstigender Traum, ein Wahnsinn; aber es lag
darin doch auch ein wahrhaftes Leid, ein echtes Märtyrertum, wodurch
der beängstigende Traum und der Wahnsinn gerechtfertigt wurden. Mehrere
Stunden hintereinander erging er sich in wirren Gedanken über das
Gelesene, erinnerte sich alle Augenblicke an einzelne Bruchstücke,
verweilte bei ihnen und dachte über sie nach. Manchmal hatte er sogar
die Vorstellung, als habe er das alles schon früher geahnt und
vorausgefühlt; es kam ihm sogar so vor, als habe er das alles bereits
einmal vor langer, langer Zeit gelesen, und als sei alles, wonach er
sich seitdem gesehnt, alles, womit er sich gequält und was er
gefürchtet habe, in diesen längst schon von ihm gelesenen Briefen
enthalten.
»Wenn Sie diesen Brief öffnen«, so begann das erste Schreiben,
»werden Sie zuallererst nach der Unterschrift blicken. Die Unterschrift
wird Ihnen alles sagen und erklären, so daß ich nichts vor Ihnen zu
rechtfertigen und Ihnen nichts zu erklären brauche. Wäre ich auch nur
einigermaßen Ihresgleichen, so könnten Sie sich durch eine solche
Dreistigkeit beleidigt fühlen; aber wer bin ich, und wer sind Sie? Wir
beide sind solche Gegensätze, und ich bin in Ihren Augen etwas so
Ungewöhnliches, daß ich Sie in keiner Weise beleidigen kann, selbst
wenn ich es woll te.«
Ferner schrieb sie an einer andern Stelle:
»Halten Sie meine Worte nicht für den verzückten Ausbruch eines
kranken Gehirns; aber Sie sind für mich die Vollkommenheit selbst! Ich
habe Sie gesehen; ich sehe Sie täglich. Ich gebe ja kein Urteil über
Sie ab; ich bin nicht durch die Urteilskraft dazu gelangt, Sie für die
Vollkommenheit selbst zu halten, sondern einfach durch den Glauben.
Aber ich habe Ihnen gegenüber auch eine Sünde begangen: ich liebe Sie.
Die Vollkommenheit kann man ja nicht lieben; die Vollkommenheit kann
man eben nur als solche anschauen, nicht wahr? Und doch habe ich mich
in Sie verliebt. Zwar macht die Liebe die Menschen gleich; aber Sie
brauchen sich trotzdem nicht zu beunruhigen; ich stelle Sie nicht mit
mir auf gleiche Stufe, nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken. Ich
habe Ihnen geschrieben: ›Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen‹; als
ob Sie sich überhaupt beunruhigen könnten ...! Wenn ich könnte, würde
ich Ihre Fußspuren küssen. Oh, ich stelle mich Ihnen nicht gleich ...
Sehen Sie nach der Unterschrift; sehen Sie schnell nach der
Unterschrift!«
»Ich merke aber«, schrieb sie in einem andern Brief, »daß ich Sie
mit ihm vereinigen möchte und noch kein einziges Mal gefragt habe, ob
Sie ihn auch lieben. Er hat Sie liebgewonnen, obgleich er Sie nur ein
einziges Mal gesehen hat. Er hat sich Ihrer wie einer Lichtgestalt
erinnert; das sind seine eigenen Worte; ich habe sie von ihm gehört.
Aber auch ohne Worte ist es mir klargeworden, daß Sie für ihn eine
Lichtgestalt sind. Ich habe einen ganzen Monat lang neben ihm gelebt
und bin dabei zu der Überzeugung gekommen, daß auch Sie ihn lieben; Sie
und er sind für mich eins.«
»Wie ist es damit?« schrieb sie an einer andern Stelle dieses
Briefes. »Gestern ging ich an Ihnen vorbei, und es war mir, als ob Sie
erröteten. Aber das ist unmöglich; das kann mir nur so vorgekommen
sein. Und brächte man Sie in die schmutzigste Lasterhöhle und
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