Der Idiot
verbrachten wir nachts ganze Stunden allein
zusammen in Stillschweigen; der Mameluck Roustan schnarchte im
Nebenzimmer; dieser Mensch hatte einen furchtbar festen Schlaf. ›Dafür
ist er mir und der Dynastie treu‹, pflegte Napoleon von ihm zu sagen.
Einmal war mir furchtbar schwarz ums Herz, und er bemerkte plötzlich
Tränen in meinen Augen; er blickte mich gerührt an: ›Du bemitleidest
mich!‹ rief er; ›du bemitleidest mich, mein Kind, und vielleicht
bemitleidet mich noch ein anderes Kind, mein Sohn, le roi de Rome; alle
übrigen hassen mich, und meine Brüder werden die ersten sein, die mich
in meinem Unglück verraten!‹ Aufschluchzend stürzte ich zu ihm hin; da
konnte auch er sich nicht mehr beherrschen; wir umarmten uns, und
unsere Tränen vermischten sich miteinander. ›Schreiben Sie, schreiben
Sie einen Brief an die Kaiserin Josephine!‹ rief ich ihm weinend zu.
Napoleon fuhr zusammen, überlegte einen Augenblick und sagte dann zu
mir: ›Du erinnerst mich an ein drittes Herz, das mich liebt; ich danke
dir, mein Freund!‹ Darauf setzte er sich hin und schrieb jenen Brief an
Josephine, mit dem Constant am folgenden Tag weggeschickt wurde.«
»Das war schön von Ihnen gehandelt«, sagte der Fürst. »Inmitten all
der bösen Gedanken haben Sie ihn zu einem guten Gefühl hingeleitet.«
»Ganz richtig, Fürst! Und wie schön Sie das ausdrücken, ganz in
Übereinstimmung mit Ihrem eigenen Herzen!« rief der General entzückt,
und seltsamerweise blinkten wirkliche Tränen in seinen Augen. »Ja,
Fürst, ja, das war ein großartiges Schauspiel! Und wissen Sie, ich wäre
beinah mit ihm nach Paris gegangen und hätte dann schließlich sein Los
auf der heißen Verbannungsinsel geteilt; aber leider gingen unsere
Lebenswege auseinander! Wir trennten uns: er ging nach der heißen
Insel, wo er sich vielleicht in einem Augenblick tiefen Grams
wenigstens einmal noch an die Tränen des armen Knaben erinnert haben
mag, der ihn in Moskau umarmt und von ihm Abschied genommen hatte; ich
dagegen kam in das Kadettenkorps, wo ich nichts fand als Drill, rohes
Benehmen der Kameraden und ... Ach, alles war zu Ende! ›Ich will dich
deiner Mutter nicht entziehen und werde dich daher nicht mitnehmen!‹
sagte er zu mir an dem Tag, an dem der Rückzug begann; ›aber ich würde
gern etwas für dich tun.‹ Er stieg schon zu Pferde. ›S chreiben Sie mir
etwas zum Andenken in das Album meiner Schwester!‹ sagte ich
schüchtern; denn er war sehr zerstreut und finster. Er drehte sich um,
verlangte eine Feder und nahm das Album hin. ›Wie alt ist deine
Schwester?‹ fragte er mich, die Feder schon in der Hand haltend. ›Drei
Jahre‹, antwortete ich. ›Petite fille alors.‹ Er schrieb in das Album:
›Ne mentez jamais!‹
›Napoléon, votre ami sincère.‹
Ein solcher Rat und in einem solchen Augenblick; Sie müssen selbst sagen, Fürst ...«
»Ja, das ist bedeutsam.«
»Dieses Blatt hing in einem goldenen Rahmen unter Glas bei meiner
Schwester, solange sie lebte, in ihrem Salon an der augenfälligsten
Stelle, bis zu ihrem Tod (sie starb im Wochenbett); wo es jetzt ist,
weiß ich nicht ... Aber ... ach, mein Gott! Es ist schon zwei Uhr! Wie
ich Sie aufgehalten habe, Fürst! Es ist unverzeihlich!«
Der General stand von seinem Stuhl auf.
»Oh, im Gegenteil!« stammelte der Fürst. »Sie haben mich so schön
unterhalten, und ... Ihre Mitteilungen waren so interessant; ich bin
Ihnen so dankbar!«
»Fürst!« sagte der General, indem er ihm wieder schmerzhaft die Hand
drückte und ihn mit glänzenden Augen unverwandt anblickte, wie wenn er
selbst auf einmal zur Besinnung gekommen und von einem plötzlichen
Gedanken überrascht wäre. »Fürst! Sie sind ein so guter, ein so
harmloser Mensch, daß Sie mir manchmal geradezu leid tun. Ich sehe Sie
mit inniger Rührung an; Gott segne Sie! Möge Ihr Leben in Liebe
beginnen und erblühen! Das meinige ist abgeschlossen! Oh, verzeihen
Sie, verzeihen Sie!«
Er ging schnell hinaus, das Gesicht mit den Händen bedeckend. An der
Aufrichtigkeit seiner Erregung konnte der Fürst nicht zweifeln. Er
verstand auch, daß der Alte wie berauscht von seinem Erfolg wegging;
aber er ahnte doch, daß dieser Mensch zu der Sorte derjenigen Lügner
gehörte, die zwar bis zur Wollust und Selbstvergessenheit lügen, aber
sogar auf dem Gipfelpunkt ihres Rausches doch im stillen argwöhnen, daß
man ihnen nicht glaubt und nicht glauben kann. Es war denkbar, daß der
Alte in seiner jetzigen Lage zur
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