Der Idiot
Sie
denn so da? Als ob Sie es nicht begriffen ... Na, warum weinen Sie
denn?«
Kolja weinte selbst und küßte seinem Vater die Hände.
»Du küßt mir die Hände, mir?«
»Nun ja, gewiß, gewiß. Was ist daran wunderbar? Na, warum heulen Sie
denn mitten auf der Straße? Und dabei nennen Sie sich einen General und
wollen ein Soldat sein; na, nun kommen Sie!«
»Gott segne dich, lieber Junge, dafür, daß du dich gegen deinen mit
Schande bedeckten Vater respektvoll benommen hast ... ja, gegen einen
mit Schande bedeckten alten Mann, deinen Vater ... Mögest du einmal
einen ebensolchen Sohn haben ... le roi de Rome ... Oh, mein Fluch
komme über dieses Haus!«
»Aber was soll denn dieses Wesen hier eigentlich vorstellen?«
brauste Kolja auf einmal auf. »Was ist denn passiert? Warum wollen Sie
jetzt nicht nach Hause zurückkehren? Wovon sind Sie denn so verrückt
geworden?«
»Ich werde es dir erklären, werde es dir erklären ... ich werde dir
alles sagen. Schrei nicht so; die Leute hören es ... le roi de Rome ...
Ach, mir ist so übel, und ich bin so traurig!
›Wo ist dein Grab, du alte Kinderfrau?‹
Wer hat so gerufen, Kolja?«
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht, wer so gerufen hat! Kommen Sie
gleich nach Hause, gleich! Ich werde Ganja durchprügeln, wenn es nötig
ist ... Aber wo wollen Sie denn wieder hin?«
Der General schleppte ihn nach der Freitreppe eines nahen Hauses.
»Wo wollen Sie hin? Das ist ein fremdes Haus!«
Der General setzte sich auf die Stufen und zog Kolja immer an der Hand zu sich heran.
»Bücke dich herab, bücke dich herab!« murmelte er. »Ich will dir
alles sagen ... die Schande ... bücke dich herab ... mit dem Ohr, mit
dem Ohr; ich will es dir ins Ohr sagen ...«
»Aber was ist Ihnen denn?« rief Kolja ganz erschrocken, hielt aber doch sein Ohr hin.
»Le roi de Rome ...«, flüsterte der General, der ebenfalls am ganzen Leib zitterte.
»Was ...? Was haben Sie nur mit Ihrem roi de Rome ...?«
»Ich ... ich ...«, flüsterte der General wieder, indem er sich immer
fester an die Schulter seines Sohnes klammerte, »ich ... will ... ich
will dir ... alles ... Marja, Marja ... Petrowna Su-su-su ...«
Kolja riß sich los, faßte selbst den General bei den Schultern und
blickte ihn wie ein Irrsinniger an. Der Alte wurde dunkelrot; seine
Lippen färbten sich bläulich; leichte, krampfhafte Zuckungen liefen
über sein Gesicht. Auf einmal bog er sich zusammen und begann sachte in
Koljas Arme zu sinken.
»Ein Schlaganfall!« rief dieser über die ganze Straße hin, da er endlich gemerkt hatte, um was es sich handelte.
V
In Wahrheit hatte Warwara Ardalionowna in dem Gespräch mit ihrem
Bruder die Zuverlässigkeit ihrer Nachrichten über die Verlobung des
Fürsten mit Aglaja Jepantschina ein wenig übertrieben. Vielleicht sah
sie als scharfsichtige Frau das, was in naher Zukunft geschehen mußte,
vorher; vielleicht hatte sie sich darüber geärgert, daß der schöne
Zukunftstraum, an den übrigens sie selbst in Wirklichkeit nicht
geglaubt hatte, wie ein Rauch zerflattert war, und mochte sich nun, was
ja nur menschlich ist, das Vergnügen nicht versagen, durch Übertreibung
des Mißgeschicks noch mehr Gift in das Herz ihres Bruders zu gießen,
den sie übrigens aufrichtig liebte und bemitleidete. Aber jedenfalls
hatte sie unmöglich von ihren Freundinnen, den Fräulein Jepantschin, so
bestimmte Nachrichten erhalten können; es lagen nur Andeutungen,
unvollendete Sätze, bedeutsames Stillschweigen und rätselhafte
Redewendungen vor. Vielleicht hatten aber Aglajas Schwestern auch
absichtlich ein Wörtchen zuviel gesagt, um selbst etwas von Warwara
Ardalionowna in Erfahrung zu bringen; möglich war schließlich auch, daß
auch sie sich nicht hatten das echt weibliche Vergnügen versagen
wollen, ihre Freundin, und wenn es auch eine Freundin aus der
Kinderzeit war, ein klein wenig zu foppen; denn in so langer Zeit
hatten sie doch notwendigerweise wenigstens ein bißchen von den
Absichten der Freundin merken müssen.
Andrerseits hatte sich auch der Fürst vielleicht geirrt, als er, in
der Meinung, durchaus die Wahrheit zu sagen, Herrn Lebedjew
versicherte, er habe ihm nichts mitzuteilen, und es habe sich mit ihm
schlechterdings nichts Besonderes zugetragen. Tatsächlich war mit allen
etwas sehr Seltsames vorgegangen: es hatte sich nichts zugetragen und
gleichzeitig doch auch gewissermaßen sehr viel zugetragen. Letzteres
hatte auch Warwara Ardalionowna mit ihrem zuverlässigen
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