Der Idiot
nicht
verlocken können, Fürst! Indes, wenn Sie wollen, so sind meine Memoiren
schon geschrieben; aber ... sie liegen in meinem Schreibtisch. Wenn man
mir Erde auf die Augen geschüttet haben wird, dann mögen sie
erscheinen, und dann werden sie ohne Zweifel auch in andere Sprachen
übersetzt werden, nicht wegen ihres literarischen Wertes, nein, aber
wegen der Wichtigkeit der gewaltigen Ereignisse, deren Augenzeuge ich,
obwohl noch ein Kind, gewesen bin. Aber gerade das kam mir zustatten:
eben weil ich nur ein Kind war, konnte ich sozusagen in das innerste
Schlafgemach des großen Mannes eindringen! Ich hörte nachts das Stöhnen
dieses ›Riesen im Unglück‹; vor einem Kind konnte er sich nicht schämen
zu stöhnen und zu weinen, obgleich ich bereits verstand, daß die
Ursache seiner Leiden das Stillschweigen des Kaisers Alexander war.«
»Aber er hat ja doch Briefe an ihn geschrieben ... mit Friedensangeboten ...«, schaltete der Fürst schüchtern ein.
»Wir wissen eigentlich nicht, was für Angebote er ihm geschrieben
hat; aber er schrieb täglich, stündlich, einen Brief nach dem andern!
Er regte sich furchtbar auf. Einmal in der Nacht, als wir beide allein
waren, stürzte ich weinend zu ihm hin (oh, ich liebte ihn!) und rief:
›Bitten Sie den Kaiser Alexander um Verzeihung!‹ Ich hätte mich ja
freilich so ausdrücken sollen: ›Versöhnen Sie sich mit dem Kaiser
Alexander!‹, aber weil ich ein Kind war, sprach ich meinen Gedanken in
jener naiven Weise aus. ›O mein Kind‹, antwortete er (er ging im Zimmer
auf und ab), ›o mein Kind!‹ (Er schien es damals öfters nicht zu
beachten, daß ich erst zehn Jahre alt war, und unterhielt sich gern mit
mir.) ›O mein Kind, ich bin bereit, dem Kaiser Alexander die Füße zu
küssen; dagegen werde ich den König von Preußen und den Kaiser von
Österreich lebenslänglich hassen. Indes ... du verstehst schließlich
nichts von Politik!‹ Er schien sich plötzlich zu erinnern, mit wem er
sprach, und verstummte; aber seine Augen sprühten noch lange Zeit
Funken. Wollte ich all diese Tatsachen berichten (und ich war auch bei
den allerwichtigsten Ereignissen Zeuge) und den Bericht jetzt
herausgeben, dann all diese Kritiken, all diese verletzte literarische
Eitelkeit, all dieser Neid, das Parteitreiben und ... nein, dafür
bedanke ich mich!«
»Was Sie von dem Parteitreiben gesagt haben, ist natürlich richtig,
und ich kann Ihnen darin nur beistimmen«, antwortete der Fürst leise,
nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Ich habe vor kurzer
Zeit das Buch von Charras über den Waterloo-Feldzug gelesen. Es ist
offenbar ein ernstes Buch, und Fachmänner versichern, daß es mit
außerordentlicher Sachkenntnis geschrieben sei. Aber auf jeder Seite
schimmert die Freude des Verfassers über Napoleons Demütigung hindurch,
und wenn es möglich wäre, dem Kaiser auch bei den übrigen Feldzügen
jede Spur von Talent abzusprechen, so würde sich Charras darüber
anscheinend höchlichst freuen; aber das macht bei einem so ernsten Werk
einen schlechten Eindruck, weil es eine parteiische Denkungsart ist.
Waren Sie damals durch Ihren Dienst beim Kaiser sehr in Anspruch
genommen?«
Der General war entzückt. Die Bemerkung des Fürsten hatte durch
ihren Ernst und ihre Schlichtheit den letzten Rest seines Mißtrauens
zerstreut.
»Charras! Oh, ich war selbst empört! Ich schrieb gleich damals an
ihn; aber ... ich kann mich jetzt eigentlich nicht mehr recht erinnern
... Sie fragen, ob mich der Dienst sehr in Anspruch nahm. O nein! Ich
hieß zwar Kammerpage; aber ich faßte das schon damals nicht als ein
ernstes Amt auf. Zudem mußte Napoleon sehr bald alle Hoffnung aufgeben,
daß es ihm gelingen werde, die Herzen der Russen für sich zu gewinnen,
und so hätte er schließlich auch mich vergessen, den er aus politischen
Erwägungen an sich herangezogen hatte, wenn ... wenn er mich nicht
persönlich liebgewonnen hätte; ich spreche das jetzt kühn aus. Mich zog
mein Herz zu ihm. Dienst wurde nicht viel von mir verlangt: ich mußte
manchmal im Schloß erscheinen und ... den Kaiser zu Pferd auf seinen
Spazierritten begleiten; das war alles. Ich war ein ganz geschickter
Reiter. Er pflegte vor Tisch auszureiten; zur Suite gehörten gewöhnlich
Davout, ich, der Mameluck Roustan ...«
»Constant«, entfuhr es auf einmal dem Fürsten.
»N-nein, Constant war damals nicht da; er war damals mit einem Brief
weggeschickt ... zur Kaiserin Josephine; aber statt seiner waren
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