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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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zwei
Ordonnanzen da und einige polnische Ulanen ... na, das war das ganze
Gefolge, abgesehen natürlich von den Generälen und Marschällen, die
Napoleon mitnahm, um mit ihnen das Terrain und die Stellung der Truppen
zu besichtigen und sich mit ihnen zu beraten ... Am häufigsten befand
sich Davout in seiner Umgebung, wie ich mich noch jetzt erinnere: ein
sehr großer, kräftiger, kaltblütiger Mensch mit einer Brille und einem
seltsamen Blick. Mit ihm beriet sich der Kaiser besonders oft. Er legte
großen Wert auf die Ansichten desselben. Ich erinnere mich, daß sie
sich schon mehrere Tage lang miteinander beraten hatten; Davout kam
jeden Morgen und jeden Abend; oft stritten sie sogar; endlich schien
Napoleon nachzugeben. Sie waren beide allein im Arbeitszimmer, als
dritter ich, den sie kaum beachteten. Auf einmal fiel Napoleons Blick
zufällig auf mich; ein seltsamer Gedanke leuchtete in seinen Augen auf.
›Kind!‹ sagte er plötzlich zu mir; ›wie denkst du darüber: wenn ich zur
russischen Kirche übertrete und eure Sklaven befreie, werden mir dann
die Russen folgen?‹ ›Niemals!‹ rief ich empört. Napoleon war
überrascht. ›In den von Patriotismus glänzenden Augen dieses Kindes‹,
sagte er, ›habe ich die Meinung des ganzen russischen Volkes gelesen.
Genug davon, Davout! Das alles ist ein Hirngespinst! Entwickeln Sie Ihr
zweites Projekt!‹«
    »Ja, aber auch dieses Projekt war eine großartige Idee!« bemerkte
der Fürst, augenscheinlich interessiert. »Sie führen also dieses
Projekt auf Davout zu rück?«
    »Wenigstens berieten sie darüber zusammen. Die Idee rührte gewiß von
Napoleon her und war dieses Adlers würdig; aber auch das andere Projekt
war eine bedeutsame Idee ... Das war jener berühmte ›conseil du lion‹,
wie Napoleon selbst diesen Ratschlag Davouts nannte. Er bestand darin,
sich mit dem ganzen Heer im Kreml einzuschließen, Baracken zu bauen,
Verschanzungen anzulegen, Kanonen aufzustellen, möglichst viel Pferde
zu schlachten und ihr Fleisch einzupökeln, möglichst viel Getreide
durch Marodieren und auf sonstige Weise zu beschaffen, den Winter bis
zum Frühjahr im Kreml zuzubringen, im Frühjahr aber sich durch die
Russen durchzuschlagen. Dieses Projekt hatte für Napoleon viel
Lockendes. Wir ritten täglich um die Mauern des Kreml herum, und er
zeigte, wo etwas niedergerissen werden sollte, wo Lünetten, Ravelins
und Reihen von Blockhäusern angelegt werden sollten; es ging wie der
Blitz: er blickte hin und traf sofort seine Anordnung. Endlich war
alles festgesetzt; Davout verlangte die endgültige Entscheidung. Wieder
waren sie allein im Zimmer, und ich als dritter. Wieder ging Napoleon
mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. Ich konnte meine Augen
nicht von seinem Gesicht losreißen. ›Ich gehe‹, sagte Davout. ›Wohin?‹
fragte Napoleon. ›Die Pferde einpökeln‹, antwortete Davout. Napoleon
fuhr zusammen; sein Schicksal entschied sich in diesem Augenblick.
›Mein Kind‹, sagte er plötzlich zu mir, ›wie denkst du über unsere
Absicht?‹ Selbstverständlich fragte er mich in der Weise, wie manchmal
ein mit dem höchsten Verstand begabter Mann im letzten Augenblick zu
der Entscheidung durch Adler oder Schrift greift. Statt an Napoleon
wandte ich mich an Davout und sagte wie infolge einer Eingebung:
›General, machen Sie, daß Sie nach Ihrer Heimat davonkommen!‹ Das
Projekt wurde verworfen. Davout zuckte die Achseln und sagte beim
Hinausgehen halblaut: ›Bah! Il devient superstitieux!‹ Und gleich am
folgenden Tag wurde der Abmarsch angekündigt.«
    »All das ist außerordentlich interessant«, sagte der Fürst sehr
leise, »wenn das alles so zuging ... das heißt, ich will sagen ...«,
suchte er sich schleunigst zu verbessern.
    »O Fürst!« rief der General, der von seiner eigenen Erzählung so
berauscht war, daß er vielleicht auch vor der größten Unvorsichtigkeit
nicht mehr zurückgeschreckt wäre, »Sie sagen: ›All das‹; aber es war
noch mehr; ich versichere Ihnen, daß ich noch weit mehr erlebte. All
das waren nur armselige politische Ereignisse. Aber ich wiederhole
Ihnen, ich war Zeuge der nächtlichen Tränen und Seufzer dieses großen
Mannes; und das hat niemand gesehen und gehört außer mir! In der
letzten Zeit weinte er allerdings nicht mehr; er hatte keine Tränen
mehr; er stöhnte nur noch manchmal; aber sein Gesicht umwölkte sich
immer düsterer. Die Ewigkeit umschattete ihn schon gleichsam mit ihren
dunklen Flügeln. Manchmal

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