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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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zusammensetzt: erstens aus
Ihrer sozusagen angeborenen Unerfahrenheit (beachten Sie wohl diesen
Ausdruck, Fürst: ›angeborenen‹!); dann aus Ihrer ungewöhnlichen
Gutmütigkeit; ferner aus Ihrem phänomenalen Mangel an Gefühl für das
rechte Maß (was Sie schon mehrmals selbst zugegeben haben), und endlich
aus einer gewaltigen Masse von Resultaten des Denkens, die Sie bei
Ihrer außerordentlichen Ehrlichkeit noch bis jetzt für echte,
natürliche, unmittelbare Überzeugungen halten! Sie müssen selbst
zugeben, Fürst, daß in Ihren Beziehungen zu Nastasja Filippowna gleich
von Anfang an etwas relativ Demokratisches (ich bediene mich der Kürze
wegen dieses Ausdrucks), sozusagen der zauberhafte Reiz der Frauenfrage
(um es noch kürzer auszudrücken) lag. Ich kenne ja genau jene ganze
Skandalszene, die sich bei Nastasja Filippowna abspielte, als Rogoschin
ihr sein Geld brachte. Wenn Sie wollen, werde ich Sie vor Ihren eigenen
Augen sezieren, ich werde Sie Ihnen wie in einem Spiegel zeigen, so
genau weiß ich, wie die Sache zusammenhing, und warum sie diese Wendung
genommen hat! Sie, ein Jüngling, dürsteten in der Schweiz nach der
Heimat; Sie strebten nach Rußland wie nach einem unbekannten
verheißenen Land; Sie lasen viele Bücher über Rußland, Bücher, die
vielleicht an sich vortrefflich, aber für Sie schädlich waren; Sie
kamen mit dem ersten heißen Durst nach Tätigkeit her und stürzten sich
sozusagen auf die Tätigkeit! Und siehe da, gleich an demselben Tag
teilt man Ihnen die traurige, herzergreifende Geschichte einer
entehrten Frau mit, Ihnen, einem ritterlich denkenden, keuschen
Menschen diese Geschichte einer Frau! An demselben Tag sehen Sie diese
Frau; Sie sind bezaubert von ihrer Schönheit, einer phantastischen,
dämonischen Schönheit (ich gebe ja zu, daß sie schön ist). Nehmen Sie
Ihre Nervosität hinzu, Ihre Epilepsie, unser Petersburger die Nerven
schwächendes Tauwetter; nehmen Sie hinzu, daß Sie diesen ganzen Tag in
einer Ihnen bisher unbekannten, für Sie beinah märchenhaften Stadt
zubrachten, mit allerlei Menschen zusammenkamen, allerlei Szenen
erlebten, unerwartete Bekanntschaften machten, einer ganz unerwarteten
Wirklichkeit gegenübertraten, die drei schönen Fräulein Jepantschin und
darunter Aglaja kennenlernten; nehmen Sie Ihre Ermüdung und Ihr
Schwindelgefühl hinzu; nehmen Sie Nastasja Filippownas Salon und den
dort herrschenden Ton hinzu, und ... was meinen Sie: was konnten Sie
von sich selbst in einem solchen Augenblick erwarten?«
    »Ja, ja; ja, ja«, sagte der Fürst, nickte wieder mit dem Kopf und
begann zu erröten; »ja, so ist das ungefähr gewesen; und wissen Sie,
ich hatte wirklich die ganze vorhergehende Nacht im Waggon nicht
geschlafen, und ebenso die zweitletzte nicht, und war sehr zerstreut
...«
    »Nun ja, gewiß; das ist es ja eben, worauf ich ziele«, fuhr Jewgeni
Pawlowitsch eifrig fort. »Es ist klar, daß Sie sozusagen in einem
Wonnerausch sich auf die Möglichkeit stürzten, öffentlich eine
hochherzige Anschauung zu äußern, nämlich die, daß Sie, ein geborener
Fürst und ein reiner Mensch, eine nicht durch eigene Schuld, sondern
durch die Schuld eines abscheulichen, vornehmen Wüstlings entehrte Frau
nicht für ehrlos halten. O Gott, das ist ja so begreiflich! Aber darum
handelt es sich nicht, lieber Fürst, sondern darum, ob dieses Ihr
Gefühl wahr und echt und natürlich oder nur ein auf einem Denkprozeß
beruhendes Entzücken war. Was meinen Sie: im Tempel ist einst einer
Frau verziehen worden, einer ebensolchen Frau; aber es wurde ihr nicht
gesagt, daß sie recht handle und aller Ehren und aller Achtung wert
sei. Hat Ihnen selbst denn nicht nach drei Monaten Ihr gesunder
Verstand zugeflüstert, wie die Sache zusammenhing? Mag sie auch jetzt
schuldlos sein (behaupten werde ich das nicht; denn soweit will ich
nicht gehen), aber kann denn alles, was ihr widerfahren ist, ihren
unerträglichen, dämonischen Stolz und ihren frechen, gierigen Egoismus
rechtfertigen? Verzeihen Sie, Fürst, ich lasse mich hinreißen; aber ...«
    »Ja, alles das ist vielleicht richtig; vielleicht haben Sie recht
...«, murmelte der Fürst wieder. »Sie ist wirklich sehr reizbar, und
Sie haben recht, gewiß; aber ...«
    »Sie verdient Mitleid? Das wollten Sie sagen, lieber Fürst? Aber
durften Sie denn aus Mitleid mit ihr und zu ihrem Vergnügen ein
anderes, hochgesinntes, reines Mädchen schmählich kränken und vor den
Augen jener hochmütigen, haßerfüllten

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