Der Ikarus-Plan - Ludlum, R: Ikarus-Plan
die Beherrschung nicht verlieren darfst, nicht einmal für einen Sekundenbruchteil. Aber es ist alles da. Denn du weißt, daß du, sobald der Vorhang weggerissen wird, etwas so Verrücktes zu sehen bekommst, daß du dich fragst, ob dir jemand glauben wird, wenn du es eines Tages erzählen kannst.«
»Das alles hast du in ihren Augen gesehen?«
»Sehr viel davon, ja.«
»Warum?«
»Sie steht schon gefährlich nah am Abgrund, Junge.«
»Warum?«
»Weil wir-weil sie es nicht mit schlichter Korruption, ja nicht einmal mit Korruption in ihrer niederträchtigsten Form zu tun hat. Hinter dem schwarzen Vorhang kommt eine Regierung in der Regierung zum Vorschein, eine Dienerschaft, die im Haus ihres Herrn befiehlt.« Weingrass bekam plötzlich einen Hustenkrampf, der seinen ganzen Körper schüttelte. Kendrick hielt ihn an den Armen fest, und nach ein paar Sekunden war der Anfall vorüber, das Gesicht des alten Mannes entspannte sich, er öffnete blinzelnd die Augen, atmete tief. »Hör auf mich, mein dummer Junge«, flüsterte er. »Hilf ihr, hilf ihr wirklich, und hilf Payton. Finde die Schweinehunde, reiß sie in Stücke.«
»Das werde ich, und du weißt es.«
»Ich hasse sie. Der Junge, der unter Drogen steht, dieser Abjad, den du in Maskat gekannt hast- wir hätten Freunde sein können, zu einer anderen Zeit. Aber die Zeit wird nie kommen, solange es Schweinehunde gibt, die uns gegeneinanderhetzen, Bruder gegen Bruder, weil sie an unserem Haß Milliarden verdienen.«
»So einfach ist das nicht, Manny...«
»Aber es ist ein Teil davon, und ein größerer Teil, als du denkst. Ich habe es erlebt. ›Sie haben mehr als ihr, also verkaufen wir euch so viel, daß ihr mehr habt als sie< – das ist nur eine ihrer Parolen; oder eine zweite: ›Sie bringen euch um, wenn ihr ihnen nicht zuvorkommt, also hier sind Waffen und Munition – wenn
ihr anständig dafür bezahlt. < Und immer höher geht es auf der verdammten Leiter: >Sie haben zwanzig Millionen für eine Rakete ausgegeben, wir geben vierzig Millionen aus.‹ Wollen wir diesen Scheißplaneten wirklich in die Luft jagen? Oder hört die ganze Welt nur auf Verrückte, die auf Männer hören, die Haß verkaufen und mit Angst handeln?«
»So gesehen, ist es so einfach«, sagte Kendrick lächelnd. »Ich habe es vielleicht selbst einmal schon so gesagt.«
»Dann sag es immer wieder, Junge. Bleib auf der Ebene, über die wir gesprochen haben – hauptsächlich wegen eines gewissen Herbert Dennison, über den wir auch gesprochen haben und dem du eine Heidenangst eingejagt hast. Vergiß nicht, daß du, ebenso wie ich, die Menschen dazu bringen kannst, dir zuzuhören. Dieses Talent mußt du nutzen.«
»Ich werde darüber nachdenken, Manny.«
»Schön, und wenn du schon nachdenkst« – Weingrass hustete und preßte die Hand auf die Brust -, »dann bitte auch gleich darüber, warum du geglaubt hast, mich belügen zu müssen? Das heißt, du zusammen mit den Ärzten.«
»Was?«
»Er ist wieder da, Evan. Er ist zurückgekommen und schlimmer als vorher, weil er eigentlich nie ganz weg war.«
»Wer ist zurückgekommen?«
»Der Krebs. Er wuchert wieder.«
»Nein, das stimmt nicht. Wir haben jeden erdenklichen Test mit dir gemacht. Sie haben alles rausgeholt, du bist sauber.«
»Sag das den kleinen Biestern, die mir die Luft abwürgen.«
»Ich bin kein Arzt, Manny, aber ich glaube nicht, daß das ein Symptom ist. Du hast während der letzten sechsunddreißig Stunden zwei Kriege durchgemacht. Es ist ein Wunder, daß du überhaupt noch Luft kriegst.«
»Ja, aber laß mich bitte durchchecken, während sie mich im Krankenhaus zusammenflicken, und lüg mich ja nicht an! In Paris gibt es ein paar Leute, um die ich mich kümmern muß, ein paar Sachen, die ich weggeschlossen habe und die sie bekommen sollten. Also lüg mich nicht an, verstanden?«
»Ich werde nicht lügen«, sagte Kendrick.
Crayton Grinell war ein schlanker, mittelgroßer Mann mit einem immer grauen Gesicht mit auffallend scharfen Zügen. Ob er
jemanden zum ersten- oder zum fünfzigstenmal begrüßte, egal, ob Kellner oder Aufsichtsratsvorsitzenden, der achtundvierzigjährige Anwalt, Spezialist für internationales Recht, tat es mit einem warmen, schüchternen Lächeln. Man glaubte ihm Schüchternheit und Wärme, bis man ihm in die Augen sah. Sie waren nicht kalt, das nicht, doch ebensowenig waren sie besonders freundlich; sie waren ausdruckslos, die Augen einer mit großer Zurückhaltung neugierigen
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