Der im Dunkeln wacht - Roman
gelesen, da betrat Sara das Zimmer. »Hallo. Wir sind auf einen Fall gestoßen, der sein erster gewesen sein könnte«, sagte sie.
»Sein erster?«, echote Irene etwas dumm.
»Möglicherweise handelt es sich um sein erstes Opfer. Aber sie hat überlebt.«
Sara warf Irene einen Packen Papier auf den Schreibtisch und verschwand dann wieder aus dem Zimmer. Die Gute verschwendet wirklich keine Zeit mit Small Talk, dachte Irene.
Es handelte sich um einen Mordversuch am Montag, 2. März, also fast ein halbes Jahr zuvor. Eine Frau namens Marie Carlsson war auf der Treppe ihres Reihenhauses gefunden worden. Ein Nachbar war durch eine laute Sirene aufmerksam geworden. Die Rufe des Mannes hatten den Täter in die Flucht geschlagen. Der Nachbar alarmierte auch die Polizei und den Krankenwagen. Marie Carlsson war bewusstlos, als er sie fand. Jemand hatte ihr eine Schlinge um den Hals gelegt und zugezogen. Der Nachbar konnte diese Schlinge schnell entfernen. Offenbar war es Marie Carlsson geglückt, eine Hand unter die Schlinge zu schieben. Das hatte ihr wahrscheinlich das Leben gerettet. Laut Spurensicherung handelte es sich um eine Nylonleine, wie sie meist als Wäscheleine verwendet wurde. Diese blaue Leine wies jedoch keine Schlingen an den Enden auf. Eine Innovation der letzten beiden Überfälle. Laut Verhör am darauffolgenden Tag war Marie Carlsson spät von ihrer Arbeit als Abteilungsleiterin beim ICA Maxi auf dem Frölunda Torg nach Hause gekommen.
Irene merkte auf, als sie las, wo Marie Carlsson arbeitete. Da war wieder dieser Supermarkt. Eine seltsame Übereinstimmung, die aber im Augenblick noch nichts zu bedeuten hatte, befand sie. Sie setzte ihre Lektüre fort.
Dieser Tag war für Marie Carlsson besonders chaotisch verlaufen, da ein Großteil des Personals krank gewesen war. Der Laden hatte zwar pünktlich um 21 Uhr geschlossen, aber es war fast 22.45 Uhr, als sie endlich zu Hause eintraf und den Schlüssel in das Schloss ihrer Haustür steckte. Ihr gelang es nicht mehr, die Tür auch zu öffnen.
Marie Carlsson war 45 Jahre alt und alleinstehend. Sie wohnte in einem Reihenhaus in Högsbohöjd. Natürlich konnte sich Irene an diesen Überfall erinnern. Eine andere Abteilung hatte sich mit diesem Fall befasst, aber sie erinnerte sich noch, wie ernst man den Vorfall genommen hatte. Die Ermittlung verlief bislang ergebnislos. Der Täter war, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, verschwunden. Mit einer Ausnahme: die Schlinge, die aus einer ganz alltäglichen Nylonwäscheleine bestand, deren Herkunft sich unmöglich ermitteln ließ.
Sie zuckte zusammen, als die Sprechanlage zu summen anfing. »Ich habe Matti gebeten, die Leine von Marie Carlssons Hals mit jenen der beiden Mordopfer zu vergleichen«, hörte sie Saras Stimme.
»Danke«, sagte Irene, aber Sara hatte die Verbindung bereits unterbrochen.
Irene starrte nachdenklich auf die verblichene Reproduktion von Monets »Impression, soleil levant«. Es hatte schon dort gehangen, als sie beim Dezernat angefangen hatte, und mittlerweile ließ es sich von der Tapete kaum noch unterscheiden. Doch selbst, wenn sie ein neues, bunteres Kunstwerk vor sich gehabt hätte, hätte sie es im Augenblick nicht wahrgenommen.
Ein Opfer, das überlebt hatte.
Das konnte den Durchbruch bei der Jagd auf einen Mann bedeuten, den die Zeitungen als Paketmörder bezeichneten.
Irene und Sara stiegen aus dem Auto und gingen auf das Haus zu, in dem Marie Carlsson wohnte.
»Schau dir die Fenster an. Höchstens anderthalb Meter über dem Boden«, stellte Sara fest.
Sie traten durch die kleine Gartenpforte. Noch ehe Irene klingeln konnte, war lautes Hundegebell zu hören. Anscheinend ein größeres Tier, dachte Irene.
Energisch drückte sie auf die Klingel. Der Hund bellte noch
lauter. Sie hörten eine Frauenstimme, ein knappes Kommando. Der Hund verstummte, aber Irene hörte, wie er sich leise knurrend direkt hinter der Haustür bewegte. Als sich die Tür öffnete, sahen Irene und Sara der Frau deswegen auf die Knie statt ins Gesicht. Ein Schäferhund war der Urheber des heiseren Gebells gewesen. Die Frau hielt ihn fest am Halsband und sagte:
»Geh rein, Hanko!«
Sie ließ das Halsband los und deutete in die Diele. Der Schäferhund ließ noch einmal ein kehliges Knurren vernehmen, warf einen letzten musternden Blick auf die beiden Polizistinnen, drehte sich dann um und zog sich zurück. In der Küchentür baute er sich auf. Irene sah ihm an, dass er abwartete, aber nicht
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