Der Implex
Blockaden, die Hindernisse auf dem Weg zur Erlangung und Entfaltung der Fähigkeit zu lieben, zu lernen und zu arbeiten beseitigt werden, indem mittels »praktisch-poietischer« (Cornelius Castoriadis) Tätigkeit ein »ich« über die Freilegung der stattgehabten Lerngeschichte des betreffenden Hirns mindestens so sehr konstruiert wie rekonstruiert wird, haben die Aufklärerinnen und Aufklärer den Menschen ermöglicht, den sie freilegen wollten. Daß man nie wird entscheiden können, ob die Kindheitstraumata und anderen Seelenmeilensteine, die in der Therapie ausgegraben werden, sich wirklich so zugetragen haben (selbst wenn äußere Dokumente die Befunde stützen, ist bis zur Entwicklung einer Sorte Hirnscanning, die solche Anamnesen dahingehend plausibilisiert, daß sich wirklich »ältere Schichten« von Denk- und Erfahrungsprozessen auffinden und datieren lassen, nicht zu gewährleisten, daß das Erinnerte wirklich so erlebt wurde), ist gar kein Beinbruch, der Vernunft ist es egal, ob sie wiedergefunden oder neu geprägt wird. Freuds Forderung »Wo Es war, soll Ich werden« ist nicht darauf angewiesen, daß das Ich irgendeinem rousseaunischen »erkorenen Butzemann« (Adorno) korrespondiert, ein neu synthetisiertes erfüllt denselben Zweck, dem Individuum die Chance zur Liebe, zum Lernen, zur Arbeit zu öffnen. Der ganze Vorgang »Aufklärung« ist zutiefst unnatürlich, weil schon Wahrheit, das also, worauf er abzielt, keine Eigenschaft von Sachverhalten, sondern von Sätzen, menschengemachten Propositionen ist.
Das Naturrecht, die Enzyklopädie, das secretum meum der Gewißheit über die Vorgänge im eigenen Hirn, die Kritik, die Naturbeherrschung: Linksscholastik, Renaissance, Humanismus, Reformation hatten Zutaten vorbereitet, die im Medium der bürgerlichen Emanzipation explizit machten, was ihnen allen gemeinsam war – eine neue Art Gesellschaft, ins Werk gesetzt von Leuten, die in ihr eine neue Art Menschen wurden. Das Naturrecht wurde wahrgemacht unter paradoxen Voraussetzungen: Man mußte glauben, es sei bereits etwas Gegebenes, um den Mut aufzubringen, es zu etwas Gegebenem zu machen. Die produktiven Potenzen dazu waren im Schoß der alten Gesellschaft gewachsen; die neue war ihnen implizit – sie war, wie wir das in diesem Buch nennen wollen, ihr Implex. Der Wortgebrauch trägt mehrere Bedeutungen: eine formallogische (Implex ist, was expliziert werden kann), eine genealogische (in der Ahnenforschung bezeichnet das Wort den Ahnenverlust, das heißt die Erscheinung, daß in der Ahnenliste einer Person bzw. eines Lebewesens Ahnen mehrfach auftauchen, so daß die Anzahl der tatsächlichen (verschiedenen) Ahnen niedriger ist als die bei den meisten Lebewesen theoretisch mögliche Anzahl der n-ten Potenz von 2 in der n. Generation) und eine poetisch-metaphorische (von Paul Valéry ausgestaltete: Implex ist der Anteil eines Musters, der weder von dem Wort »Form« noch von dem Wort »Inhalt« hinreichend erfaßt wird und der nicht-detektivischen, nicht-reduktionistischen, nicht-entlarvenden Hermeneutik bedarf, um zu erscheinen), alle meinen wir mit: Die formallogische spielt in unseren Versuch, »Fortschritt« ohne Orthogenese und Entelechie, also ohne die Garantie einer systemisch vorgegebenen Höherentwicklung irgendwelcher Gesellschaftsformen zu denken, also ein Geschichtsbild zu entwickeln, das von der Hegelschen ein paar Bewegungsgesetze erbt, aber nicht die Illusion der Gerichtetheit; die genealogische des Ahnenverlusts erinnert uns daran, daß Möglichkeiten real sind auch da, wo sie nicht realisiert werden, ja wo ein geschichtliches Startfenster geradezu verpaßt wird (daß der Sozialismus nicht in dem von Marx und Engels geahnten Zeit- und Ereignisrahmen aus dem Kapitalismus hervorging, heißt nicht, daß es nicht so hätte sein können – selbst Skeptiker werden zugeben müssen, daß es qualitative Unterschiede zwischen dem Nichteintreten jener Vorhersage und etwa dem Ausbleiben des von irgendwelchen Sektierern aufgrund von Engelsstimmenhalluzinationen erwarteten Weltendes für den 1. Januar 1999 gibt; diese Unterschiede, die uns aus bestimmten, im weiteren zu entwickelnden Gründen sehr interessieren, fassen wir dann kategorial mit der Feststellung, bestimmte nicht unwahrscheinliche Folgelagen seien ein Implex einer spezifischen Ausgangslage gewesen, andere nicht); die poetische wird uns beschäftigen, wo uns die Untersuchung der jüngeren Vernunftgeschichte, die wir uns vorgenommen haben,
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