Der Implex
der Analyse über den Sachverhalt: Daß man das Proletariat öffentlich fast nicht mehr sieht außer als Gruselmonsterreservoir für Unterschichtenaufführungen, reflektiert seine Ohnmacht; daß es keins mehr zu geben scheint, zeigt, wie sehr der Marxismus recht hatte, in ihm Unterworfene zu sehen, Menschen, mit denen man, wenn man denn über profitbildenden Besitz verfügt, so gut wie alles machen kann, sogar, Abrakadabra, sie zum Verschwinden bringen.
Seit der marktförmigen Weltwerdung der Welt werden die letzten Schlupflöcher zugekleistert, wer nicht verkommen will, wird zumindest genauer beobachtet (Sozialbezüge, Almosen selbst in den reichsten Ländern abzugreifen, ist für Menschen, die ihre Ruhe vor dem Beschnüffeltwerden haben wollen, längst kein Spaß mehr), wenn nicht bereits einfach dahin kommandiert, wo noch Leute gebraucht werden, die Abnahme der Unerpreßbarkeit, das Erbleichen der freien Berufe reduziert flächendeckend überall die Vertragsförmigkeit der Beziehungen der Menschen und hat ernste Folgen für ihr Selbstbild, nicht nur für die Zahlungsmoral: Was sich da anschickt zu verschwinden, ist nichts Geringeres als die für die moderne Subjektivität einmal maßgebliche, diese überhaupt erst ermöglichende Vertragsfähigkeit der Individuen, ihre Verpflichtbarkeit auf den Grundsatz »pacta sunt servanda« , ihre Fähigkeit zu (man lache nicht) Tugend, Ehre, Freundschaft – na gut, es gibt ja immerhin Facebook.
Wer seinen Rechtsansprüchen keine Geltung, keinen Nachdruck verschaffen kann, mittels Zwangsinstrumenten, kann sie genausogut abschreiben – sichtbares Zeichen davon ist in unserem geschichtlichen Augenblick der Entwicklung der kapitalistischen Freiheiten die Zunahme der Zahl öffentlich sichtbarer privater Durchsetzungsinstrumente für Rechtsansprüche, etwa Rent-A-Cops in restbürgerlichen Geschäftsvierteln, weil die Polizei, die damit beschäftigt ist, kapitalistische Großbauten oder Atomtransporte zu schützen, nicht einmal die Einhaltung des Gesellschaftsvertrags und den Respekt vor der Eigentumsordnung garantieren kann; vom Strafvollzug bis zum Krieg (Söldnerfirmen wie Blackwater machten zuerst im War on Terror von sich reden, es gibt sie aber schon länger): Die Spirale hat sich ein weiteres Mal gedreht, die mit der gleichzeitigen Befreiung (Vertrag statt Zwang) und Knechtung (Zwang zum Vertrag) bei der Geburt des Kapitalismus in Gang kam.
An dieser Stelle wird die Erinnerung an den zentralen, schönsten, wertvollsten Irrtum der Aufklärung, dem wir unser erstes Kapitel gewidmet haben, allmählich schmerzlich: Menschen, dachte man, haben Rechte. Der weitere Geschichtsverlauf ab dem Augenblick, da dieser Irrtum in der Welt war, zeigt: Sie haben nur so viele, wie sie durchsetzen können.
Das Verhältnis von Freiheit zu Unfreiheit binär zu kodifizieren, ohne darauf zu achten, daß die eine der anderen implizit ist und je nach Stand der Dinge viele Abläufe denkbar sind, die sie ineinander umschlagen lassen, ist aber kein bloßer Denkfehler philosophischer Irrgänger, sondern selbst Bestandteil der modernen, der kapitalismuskonstituierenden Hexis. Auf deren beiden Seiten stehen zwei drehsymmetrische (statt etwa spiegelsymmetrische) ökonomistische historische Fiktionen, nämlich die vulgärliberale, wonach die Knechtschaft in der Produktionssphäre mit der Einführung der freien Lohnarbeit ganz allgemein ein Ende gefunden habe, und die vulgärmarxistische (und, wenn man einige Unklarheiten beim jungen Marx betrachtet, früh-Marxsche), wonach mit der Lohnarbeit die Arbeitsteilung endgültig ihren grundsätzlich sündigen, menschenfeindlichen Charakter offenbart hätte, als Instrument, das den Arbeiter zum Anhängsel nicht zuletzt des fixen Kapitals, der als Maschinerie und Fabrik vergegenständlichten toten Arbeit macht und ihn, den Zombie, in dem Totes Lebendes regiert, ärger knechtet als noch der stumpfste Frondienst. Diesen beiden Auffassungen gegenüber, die daran leiden, daß sie nicht dialektisch begreifen, was nun mal dialektisch verfaßt ist, möchten wir dem Hinweis von Jairus Banaji folgen, daß die Lohnarbeit nicht die ausschließliche Hexisstifterin des Kapitalismus ist, sondern die modellhafte, nicht das einzige Realverhältnis, aber dasjenige, durch dessen Verfassung bestimmt wird, welchen Tätigkeiten und Abläufen, Arbeitsteilungen, Arbeitsleistungen, Forschungen, Freizeitvorkommnissen überhaupt soziale Realität zukommt. Denkt man an das
Weitere Kostenlose Bücher