Der Implex
Kind aus dem Hilflosigkeitsalter ins Selbstversorgeralter zu führen, ohne irgend etwas auf es einwirken zu lassen, was Gesellschaft gleichkommt, erzeugt man nichts als schwere Deprivationsschäden. Die ganze, endlose, ermüdende, an dieses Nexus angedockte Debatte Nature versus Nurture , angeborene versus sozial konstruierte Identität ist ein Scheingefecht von Menschen, die zu faul oder ängstlich sind, die Details der Sozialisation aus den Details des Sozialen herauszulesen: das »soziale Konstruieren« selbst ist Naturvorgabe beim Menschen, hardwired , und die Art, wie unsere Spezies ihr Genom verwirklicht, der menschliche Phänotyp, ist gesellschaftlich).
VI.
Klassenaufklärung: Vom Sinn der combinations
Eine der Gemeinschaften, in die eintritt, wer zur Welt kommt, ist zu allen bisher bekannten Zeiten die Klasse – aber das, nach einer berühmten, bei Kant geborgten Marxschen Volte, auf die wir oben bereits angespielt haben, zunächst nur an sich, nicht für sich. Was der sozialen Klasse zur geschichtsmächtigen Kraft fehlt, der sogenannte »subjektive Faktor«, das vielzerredete Klassenbewußtsein, entsteht in den Klassenkämpfen, und nur deshalb interessieren die Weltverbesserer sich für diese.
Hören wir dazu keine Marxisten, sondern abermals die Aufklärung –»the great inequality with which the advantages and enjoyments of life are dealt out to different classes of men«, sagt Anna Laetitia Barbauld, ist ein großes Unrecht, aber mit der unversieglichen Neugier des Vernunftmenschen fragt sie nicht wie einer jener Landpfarrer mit ihren philanthropischen »Liebessabbeleien«, gegen die Marx und Engels in ihrem wunderschönen Zirkular gegen Kriege rabiat vorgegangen sind, nach Herz und Schmerz, sondern stellt lieber die sehr viel spannendere Frage, was, wenn doch der Antagonismus so tief ins gesellschaftliche Leben eingegraben ist, diese eigentlich daran hindert, in den bellum omnia contra omnes zurückzufallen – wieso sind Klassen nicht nur für die faultlines im Sozialen zuständig, sondern in allen naturwüchsigen, irgendwie zustande gekommenen historischen Gesellschaften zugleich auch Garanten und Agentien der Vergesellschaftung? – »Since things are so, how is it, it may be asked, that they are not worse?« 14
(Die alte Philosophenfrage, warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts, hat an dieser Stelle ihren meistens mutwillig übersehenen, wortreich eskamotierten gesellschaftlichen Ursprung: Personen, die von Beruf denken dürfen, ahnen, daß ihre Muße auch in kulturhistorischen Aufschwungsperioden an einem Abgrund stets sehr naheliegender gesellschaftlicher Desintegration, um sich greifender Anomie, Zerreißen der Vergesellschaftungsmodi entlanggrübelt). Die Nüchternheit, mit der Barbauld diese Frage beantwortet, teilt sie mit Smith, Ricardo, der schottischen Aufklärung. Ihre Antwort lautet: Die Klassengesellschaft bleibt am Leben, weil sie nicht umhinkann, bei der Produktion von Laster und Unrecht immer auch Tugend und Recht herzustellen, die sie stabilisieren (und selbst da, wo sie sie beschädigen, auf höherer Stufe wieder hervorbringen, eine Entwicklung, deren Fluchtpunkt natürlich die Überlegung bildet, daß die höchste Stufe dieser Entwicklung der Klassengesellschaft selbst keine mehr sein wird). Die entfaltete Argumentation ist dreigliedrig:
Erstens : Die Klassenstruktur selbst, nämlich das in ihr angelegte Herrschendürfen, erzeugt (also nicht nur: befriedigt) gerade bei herrschenden Klassen Bedürfnisse, für deren Befriedigung sie sich zu Klassenkompromissen bereitfindet, die der sozialen Organisation dieser Bedürfnisse und ihrer Befriedigung inhärent sind. »If the rich had no fantastic wants, it is probable no more poor would be suffered to subsist in a country than would suffice to procure a plentiful subsistence for the owners of the soil; just as we maintain no more oxen than will serve for food, or horses than are wanted for the draft of the saddle.« 15 Der Gedanke nimmt in aller Unschuld Marx vorweg, nämlich dessen Kritik an Proudhon, derzufolge sich etwa nicht, wie jener meinte, die Produktivkräfte aufgrund der Bedürfnisse entwickelt haben, sondern umgekehrt die Bedürfnisse aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte, die in arbeitsteiligen Klassengesellschaften implizit steckt.
Der Luxus kommt nicht von einem irgendwie falsch verteilten Gesamtüberfluß, sondern von einem Produktionsprozeß, dessen ineinandergreifende Zahnräder der Reichtum
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