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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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daraus resultierender Abwesenheit aus der Produktion.
     
    Der Menschenkopf, ist er erst von den Verhärtungen der entfremdeten Routine befreit, bleibt, wie sich herausstellen wird, sehr viel länger lernfähig als erwartet: Noch mit achtzig kann man sich die Regeln des Schachspiels aneignen, wenn man nicht vorher verkümmert ist; das macht die Nachmittage gar nicht so uninteressant, bis abends die in beweglichen Arbeitsgemeinschaften organisierte Kultur einlädt (von der man allerdings den jetzigen muffigen Namen nicht länger wissen wird. Alles, was sich auf dem großzügig ausgelegten Spektrum zwischen populärer Musik und Versepos findet, wird endlich so heißen, wie es längst heißen will: Kunst. Die Qualitätsfrage klärt man langsamer; aber man hat ja jetzt auch mehr Zeit). Erst mit dem Wegfall zahlreicher Formen des Elends wird man sie als solche überhaupt erkennen (und sich, falls man die Vorgeschichte noch erinnert, angemessen dafür schämen, daß man unter ihnen eigentlich kaum bewußt gelitten hat).
    Der Vorstellung, es ließe sich noch (und womöglich: gerade) in der äußersten Bedrückung die Kraft sammeln, diese abzuwerfen, haben zwar in ihrer Feuerkopfphase selbst Marx und Engels manchmal Raum gegeben; es gibt Stellen etwa im Manifest der Kommunistischen Partei , die sich direkt der lassalleanischen Verelendungstheorie anzuschmiegen scheinen. Sobald freilich Politik gemacht wurde und es also beispielsweise galt, sozialdemokratische Programmentwürfe wie die von Gotha oder Erfurt auf ihre Tauglichkeit zur Herstellung der Freiheit abzuklopfen, wurden die beiden Alten derlei schnell los. Engels, gegen den gesellschaftsanalytisch gemeinten Erfurter Satz von 1891 »Immer größer wird die Zahl und das Elend der Proletarier« polemisierend: »Das ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisation der Arbeiter, ihr stets wachsender Widerstand wird dem Wachstum des Elends möglicherweise einen gewissen Damm entgegensetzen. Was aber sicher wächst, ist die Unsicherheit der Existenz« 277 – eine Schriftstelle, bei der sich wohl vor allem diejenigen geniert fühlen müssen, die aus einigen Andeutungen von Marx und Engels betreffend die Abschaffung der Arbeitsteilung im Kommunismus eine Art positiver Beliebigkeit der Lebensführung als Kennzeichen kommunistischer Wirklichkeit ableiten wollen und deshalb den Begriff der »Sicherheit« nicht mögen, der solchen Grenzenlosigkeitsideen schroff entgegensteht.
     
    Als der Marxismus von der Welt noch etwas wollte, außer ihr gegenüber recht zu haben, hat er also offenbar am Kapitalismus »die Unsicherheit der Existenz« durchaus mißbilligt und für die von ihm angestrebte Lebensweise nicht nur Freiheit (auch und gerade von Not), sondern auch Verläßlichkeit, Berechenbarkeit der wechselseitigen existenziellen Abhängigkeiten der Menschen voneinander verlangt. Krankenversicherung ohne (oder: bei absterbendem) Staat, Rechtssicherheit ohne Justizvollzugsknüppel, Rente ohne Einzahlung? Genau so.
    Wie nämlich in vorbürgerlichen Zeiten ein Fürst seinen renitenten leibeigenen Bauern auf offener Straße mit dem Ochsenziemer verdreschen durfte, ohne die geringsten Repressalien fürchten zu müssen, während hundertfünfzig Jahre später selbst der übelste Personalchef einer Kündigung nicht mehr mit der Stiefelspitze Nachdruck verleihen konnte, ohne mit den ausführenden Organen der Bestimmungen im BGB Scherereien zu kriegen, gerade so wird, eine bestimmte Einrichtung der Produktion vorausgesetzt, für zahlreiche äußerst wünschenswerte Varianten solidarischen Verhaltens kein Repressionskorsett mehr benötigt. (Die Polizeidrohung ist ja auch nicht der Grund, warum der Personalchef mich nicht tritt. Er weiß vielmehr: Tut er so was, dann begibt er sich in Gefahr, sich außerhalb der Gesellschaft zu stellen, die ihn nährt, kleidet, mit ihm redet). »Wünschenswerte Varianten solidarischen Verhaltens« meint sehr Konkretes: Wer lernen will und kann, soll das dürfen und von gesellschaftlich produzierten, dafür bereitgestellten Mitteln dabei profitieren; Alte, Kranke, von außersozialen Gegebenheiten und Wechselfällen auf welche Weise auch immer benachteiligte Leute werden nicht mit diesen Widrigkeiten alleingelassen; verbindliche Symmetrien im Umgang miteinander werden eingehalten, pacta sunt servanda .
     
    Die misanthropische Vorstellung, daß nur über ein gestaffeltes System von Anreizen und Drohungen das Zerbrechen des großen Ganzen in tollwütige

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