Der Implex
Bürgerstaat zum Verschwinden; genau so muß es einigen seiner eigenen Differenzierungen ergehen, wenn deren Klassenvoraussetzungen glücklich aufgehoben sind. Sehr viel Aufwand, der in einer auf Lohnarbeit als Vergesellschaftungsform gegründeten und von ihr auch im Stadium von deren Zersetzung bis in die geldlosen und scheinbar außerökonomischen Verkehrsformen durchherrschten Sozietät getrieben wird, ist nämlich längst eher dazu da, das Offenbarwerden der bei hohem Produktivkraftstand stets zunehmenden Fadenscheinigkeit dieser Vergesellschaftungsform zu behindern, statt dazu, irgendeine Produktion zu erleichtern.
Das Abschleifen scheinfunktionaler Aufgabendifferenzen in der Verwaltung ist, wenn es im Rahmen emanzipatorischer statt vom Akkumulationsregime diktierter (»Rationalisierung«, »Freisetzung«, »Deregulierung«) Umwälzungen stattfindet, Moment eines Geschehens, das die Marxistinnen immer gern planen und die Anarchistinnen immer nicht abwarten wollen; die klassische sozialistische Literatur kennt dieses Geschehen als sogenanntes »Absterben des Staates«, und seine Beschreibung, auf die tausendundein Hayek die Linke am liebsten bis ins kleinste Detail festlegen wollen (damit dann jeder Stolperstein auf dem Weg dahin als »Widerlegung« ausposaunt werden kann), fällt deshalb so notorisch schwer, weil man aus logischen Überlegungen (hier nun also gerade nicht: genealogischen) schlecht voraussagen kann, wann und wie etwas tatsächlich vergessen werden wird, für das keine Verwendung mehr anzugeben ist. Die Voraussageunwahrscheinlichkeit ist dem Halteproblem der Informatik verwandt und rührt daher, daß einerseits Zukunftsaussichten grundsätzlich nach dem auf der Zeitachse gespiegelten Modell vergangener Entwicklung modelliert werden müssen, andererseits aber Leute (einzeln wie kollektiv) sich selten daran erinnern können, wann und wie genau sie etwas vergessen haben, das sie nicht mehr wissen (Lorenz Jäger hat den Zusammenhang einmal in die konzise Form der Frage gebracht: »Wieviele Generationen hat es gedauert, bis die Ägypter ihre Bilderschrift nicht mehr beherrschten?«).
Obgleich Organismusanalogien notorisch biologistische und andere essentialistische Tücken haben, die man präsent halten und als Einschränkungen der Vergleichsreichweite berücksichtigen sollte: Vergleicht man den Staat statt mit einem Lebewesen, wie das häufig getan worden ist, eher mit einer chronischen psychosomatischen Erkrankung (der Organismus wäre dann das vorstaatliche, rohe Gemeinwesen, man denke sich das in Bildern von Hobbes bis Rousseau), so ließe sich die Idee seines Absterbens etwa mit einem Arbeitsplatzwechsel vergleichen, nach dem dann Schlafstörungen, der übersäuerte Magen und die Flecken im Gesicht verschwinden, bei denen keinerlei ärztliche (die Metapher meint damit: sozialdemokratische und liberale) Diagnostika und Therapeutika sonst greifen wollten (schon Freud konnte den Leuten keine neue Arbeit, keine neuen Geliebten et cetera verschreiben und hat das fallweise durchaus bedauert).
Wenn der Staat as we know it nicht mehr da ist, wird man das daran erkennen, daß er nicht vermißt wird, ja nicht einmal das Echo alter Kämpfe um ihn (und gegen ihn) noch für Nostalgie taugt.
Einem leidigen dialektischen Gesetz der Weltzeitalterabfolge gemäß, wonach Fortschritt ist, wenn die Menschen nicht mehr an den alten Krankheiten sterben, sondern an neuen, wird es nach dem Übergang von Unterdrückung, Ausbeutung, Ausschluß zur Freiheit weniger Verkehrsunfälle (etwa wegen Übermüdung bei Truckerinnen, als verschleierter Suizid oder infolge ungenügender Flowchartausarbeitung bei der Fahrführung), weniger Burnout-Opfer, Ausdruckshemmungen, Raubüberfälle, religiöse Psychosen, intellektuelle Sehstörungen (»Ideologie«), ethische Übelkeit (»Depressionen«) und Fememorde geben, dafür aber mehr Partylärm, mehr Irrwege der Forschung, mehr lästige Privatkunstsysteme, Gammelei, tribalistischen Blödsinn (Kulte und Sekten, die nicht lange genug kohärent bleiben, um sich zu Kirchen oder Religionen zu verfestigen), Besserwissereien, leidenschaftlich-phantasievollen Streit unter Liebenden variabler Anzahl und komplexer geschlechtlicher Zuordnung (die Schiedsrichterfunktion, die ökonomische Zwänge und bürgerliches Familienrecht in primitiven Gesellschaften bei Liebeshändeln zwar selten gerecht, aber effektiv ausüben, fällt weg), schwerer erziehbare Kinder sowie längere Drogenreisen samt
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