Der indigoblaue Schleier
Haar und betrachtete ihr Werk. »Wunderbar. Du siehst aus, als hättest du seit Jahren auf der Straße gelebt.«
»Was würde ich nur ohne dich tun, Nayana?«
»Und ich ohne dich?« Die Kinderfrau lächelte Bhavani an, bevor ihr Gesicht einen entschlossenen Zug annahm. »So, nun komm, wir müssen uns sputen.«
»Was ist mit den Ketten von Tante Sita?«
»Die habe ich dem ›Dieb‹ als Lohn überlassen.«
Natürlich, dachte Bhavani, wie dumm von ihr. Die Vorbereitung ihrer Flucht, bei der sie mehrere Helfer gehabt hatten und diverse Leute bestechen mussten, nicht zuletzt den Brückenwächter, musste alles an Geld verschlungen haben, was sie gemeinsam in den vergangenen Wochen hatten auftreiben können.
Nachdem Bhavani festgestellt hatte, dass sie in anderen Umständen war, hatte sie sich sofort der »Bettlerin« anvertraut, die tagaus, tagein vor ihrem Haus hockte. Nayana hatte den Fluchtplan ausgeheckt und dafür den heutigen Tag gewählt – ihre alte
ayah
war gerissener, als Bhavani es für möglich gehalten hätte. Sie selber hatte den Auftrag erhalten, in der kurzen Zeitspanne – zwischen der Entdeckung ihrer Schwangerschaft bis zu dem geplanten Tag der Flucht blieben ihnen nur knappe vier Wochen – alle Dinge im Haushalt Maneshs zu stehlen, deren Fehlen nicht sofort auffallen würde, so wertlos sie Bhavani auch erscheinen mochten.
»Aber das kann ich doch nicht machen!«, hatte Bhavani anfangs geklagt.
»Denke immer daran, was diese Unmenschen dir gestohlen haben. Im Übrigen merkt es kein Mensch, wenn mal eine Seidenblume verschwindet oder sich ein silberner Knopf von Maneshs Gewand löst.«
»Was willst du denn mit Seidenblumen anfangen? Ich glaube kaum, dass wir davon unsere Flucht bestreiten können.«
»Glaub mir, meine Kleine, hier draußen hat alles einen Wert, was nicht Staub ist. Mit deinen Gewändern und den bestickten Pantoffeln entlohne ich die guten Leute, die mir Obdach gegeben haben – und es ist tausendmal mehr, als sie erwartet haben. Das alte paan daan deiner Tante, das seit Jahren unbenutzt herumstand, habe ich für ein hübsches Sümmchen versetzt, mit dem ich den Wachmann an der Brücke bezahlt habe, und der Kindersäbel, mit dem Vijay einst geübt hat und den er nie und nimmer vermissen wird, hat uns ein kleines Vermögen eingebracht.«
»Hast du noch den Beutel, den ich …?« Bhavani schämte sich schon im selben Augenblick, dass sie die Frage überhaupt hatte stellen wollen. Ein Blick in die Augen Nayanas bestätigte ihr, dass die alte Kinderfrau beleidigt war. »Es tut mir leid«, sagte Bhavani, »verzeih mir bitte.«
Nayana überreichte ihrem Schützling ein Knäuel Stickgarn.
»Was soll ich damit?«
»Es verwahren, was sonst? Der Beutel, so unscheinbar er auch war, hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt, desgleichen das silberne Döschen, das ich übrigens verkaufen musste. Der Diamant ist fest in dieses minderwertige Garn eingewickelt – nicht einmal der dreisteste Dieb würde sich für ein solches Knäuel interessieren.«
Obwohl sie dafür gesorgt hatten, dass Bhavani in den Augen derer, die sie gekannt hatten, tot war, änderten sie sicherheitshalber ihre Namen. Bhavani nannte sich nun Uma – genau wie ihr alter Name eine andere Bezeichnung der Göttin Parvati. Ihre ayah gab sich den Namen Roshni, was »Licht« bedeutete und damit Nayana, »Augen«, adäquat ersetzte. Anfangs taten Uma und Roshni sich schwer mit dem Gebrauch ihrer neuen Namen, doch schon nach wenigen Wochen waren sie ihnen in Fleisch und Blut übergegangen.
Auch ihre äußere Erscheinung erinnerte kaum noch an die beiden Frauen, die einst ein Leben in Wohlstand genossen hatten. Roshni, die schon länger als vermeintliche Bettlerin über ihren Schützling gewacht hatte, bereiteten die Entbehrungen keine Schwierigkeiten. Doch Uma konnte sich mit den Umständen ihres Alltags nicht anfreunden. Sie litt unter den Blasen, die sie sich an den Füßen zugezogen hatte, genau wie unter dem Sonnenbrand, der sich auf ihrer hellen Haut gebildet hatte. Sie hasste die zerlumpten Kleider, die sie trug, und sie verabscheute das Essen, das meist aus Reis bestand, der in verschmutztem Flusswasser gekocht wurde. Nach Wochen der Wanderschaft sehnte sie sich sogar nach ihrer verhassten Dachkammer – alles schien ihr besser als die ungezieferverseuchten Unterkünfte, in denen sie schliefen. Wenn sie überhaupt Aufnahme bei mildtätigen Leuten fanden, denn meist waren sie gezwungen, unter freiem Himmel zu
Weitere Kostenlose Bücher