Der indigoblaue Schleier
entwürdigend diese auch sein mochte. Der Tiefpunkt war an einem lauen Herbstabend erreicht, an dem sie, ausgehungert und verzweifelt, ihre Dienste als Leichenwäscherin anbot. Als sie von der schrecklichen Arbeit zu ihrem Zelt zurückkehrte, das sie aus Lumpen und Bambusstäben errichtet hatten, fiel sie vor Roshni auf die Knie und schluchzte herzerweichend.
»Nie wieder! Lieber verkaufe ich meinen Körper, als noch ein einziges Mal diese stinkenden, verwesenden Leiber anzurühren! Lieber lasse ich mich bei dem Versuch, den Diamanten zu verkaufen, verhaften, als jemals wieder diese Tätigkeit auszuüben!«
Roshni ließ sich ihr Mitleid mit ihrem Schützling nicht anmerken. Mit kalter Stimme sagte sie: »Du tust nichts von alledem. Aber ich sage dir, was du machst. Du lässt mich hier und gehst deinen Weg allein. Ich bin alt und nutzlos. Ohne mich wirst du viel besser zurechtkommen.«
Uma wusste selber nicht, was über sie kam, doch kaum hatte Roshni diese Worte ausgesprochen, gab sie ihrer
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eine schallende Ohrfeige. »Du bist nicht bei Sinnen! Nicht nur dein Bein, auch dein Kopf hat einen schweren Schaden bei dem Unfall erlitten! Was glaubst du denn, was passiert, wenn ich dich deinem Schicksal überlasse, he? Dann bist du in Kürze auch einer von den übelriechenden Kadavern, die ich waschen muss.« Uma schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte so heftig, dass sie kaum noch Luft bekam. Tränen bahnten sich ihren Weg, die sie allzu lange zurückgehalten hatte. Sie weinte um alles, was sie verloren hatte: ihre Familie, ihre Ehre, ihre Schönheit und nun schließlich auch ihre Würde. Sie würde nicht zulassen, dass sie Roshni verlor, die einzige Menschenseele, der etwas an ihr lag und der sie ihre Freiheit zu verdanken hatte. Denn damit würde sie letztlich die einzigen beiden Dinge einbüßen, die ihr noch geblieben waren: ihren Verstand und ihren Lebensmut.
»Scht«, flüsterte Roshni, »ich weiß, wie dir zumute ist, Bhavani-Schatz, Uma-Liebling, meine Kleine. Aber ich weiß auch, dass unser Schicksal eine günstige Wendung nehmen wird. Sieh nur, es ist bald Vollmond. Hör nur, die Nachtigallen singen. Und riech nur, der Duft von Jasmin liegt in der Luft.«
Uma schüttelte unwirsch den Kopf. Ihr wäre es lieber gewesen, sie hätten eine Behausung gehabt, bei der man nicht durch das Zeltdach den Mond sehen und durch die dünnen Stoffwände die Geräusche der Nacht hören konnte. Und bei allem, was recht war: Das Einzige, was ihre Nase erschnupperte, war der Gestank der Kloake, neben der man ihnen gestattet hatte, ihr Lager aufzuschlagen. Dennoch fanden die tröstlichen Worte unmerklich Eingang in ihr Bewusstsein. Umas Tränen versiegten, und sie wappnete sich seelisch für den nächsten Tag voller abscheulicher Plackerei. Irgendwie würde es schon weitergehen.
Nachdem sie ein Jahr auf Wanderschaft gewesen waren, erreichten Uma und Roshni ihr Ziel: den Süden Indiens, der nicht von den muslimischen, ursprünglich aus Persien stammenden Moguln beherrscht wurde, sondern von Maharadschas aus alten Hindu-Geschlechtern. Eine bedeutende Verbesserung ihrer Lebensumstände, wie sie es sich erhofft hatten, ging damit nicht einher. Ganz gleich, wer an der Macht war – Frauen hatten nirgends nennenswerte Rechte. Und arme Frauen hatten gar keine.
Immerhin waren sie während der beschwerlichen Reise nicht überfallen worden. Auch war es ihnen gelungen, die Zölle an den Grenzen zwischen den verschiedenen Fürstentümern zu sparen, da sie sich nachts durch unwegsames Gelände geschlagen hatten, in dem keine Wachen postiert waren. Man verließ sich anscheinend auf die angsteinflößende Wirkung wilder Tiere, denen Uma und Roshni tatsächlich einige Male begegnet waren. Doch auch dabei hatten sie Glück im Unglück. Sie blieben von Schlangenbissen oder Tigerattacken verschont.
Sie fanden ein abgelegenes Häuschen, in dem zuvor eine alte Hexe gehaust hatte und das nun niemand sonst bewohnen wollte. Der Eigentümer, ein miesepetriger, schielender Bauer, überließ es ihnen zum Lohn dafür, dass sie seine Ziegen hüteten. Diese Aufgabe übernahm Roshni, die inzwischen wieder leidlich gehen konnte. Uma indes suchte sich eine Arbeit, die bezahlt wurde, denn vom Viehhüten und Wildfrüchtesammeln allein wurden sie nicht satt. Doch obwohl sie sich mittlerweile die verschiedensten Fähigkeiten angeeignet hatte, hatte niemand Verwendung für sie. Einzig auf einer Indigoplantage wurde sie fündig.
Je erbärmlicher die
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