Der indigoblaue Schleier
nächtigen. Es war Winter, die Nächte konnten bitterkalt werden, während tagsüber eine unbarmherzige Sonne auf sie herabschien. Mehr als einmal dachte sie daran, den Diamanten zu verkaufen, entsann sich jedoch immer noch rechtzeitig der Warnung Roshnis: »Welcher Streuner besitzt ein so kostbares Stück? Keiner. Sie werden uns verhaften. Denn die Wahrheit über dich und die Herkunft dieses Steins kannst du unter keinen Umständen preisgeben.«
Es wurde Frühling. Uma war mittlerweile im vierten Monat ihrer Schwangerschaft, ein winziges Bäuchlein wölbte sich an ihrem ansonsten ausgemergelten Leib. Je weiter sie sich von ihrer einstigen Heimat entfernten und je wärmer die Nächte wurden, desto größer wurde ihr Vertrauen in eine Zukunft, die wahrscheinlich von Armut, aber auch von Sicherheit und Geborgenheit geprägt sein würde. Denn Uma und Roshni schlugen sich nicht schlecht durch. Sie fanden immer Gelegenheitsarbeiten auf den Feldern oder bei Schneidern in den fremden Städten, durch die sie ihr Weg führte. Manchmal boten sie ihre Dienste als Laubfegerinnen an, manchmal als Wäscherinnen; es waren immer sehr schlichte Arbeiten, die sie verrichteten. Sie gaben sich als Mutter und Schwiegertochter aus, die sich auf die Suche nach ihren verschollenen Männern gemacht hatten. So genossen sie das höhere Ansehen sowie die Vorrechte, die verheiratete Frauen gegenüber Witwen besaßen. Oft kamen sie auch in den Genuss des Mitleids anderer Frauen, denn die Geschichte von Vater und Sohn, die gemeinsam fortgegangen waren, um in einer Goldmine ihr Glück zu versuchen, ging vielen zu Herzen.
Der größte Vorteil dieser Tarnung lag allerdings darin, dass Uma sich nicht immerzu von den Männern bedrängt fühlen musste. Eine brave und noch dazu schwangere Ehefrau, die mit ihrer Schwiegermutter unterwegs war, zog deutlich weniger begehrliche Blicke auf sich, als es ein junges, lediges und entehrtes Mädchen getan hätte.
Uma und Roshni hatten an diesem Morgen ihre Bündel gepackt, um weiter gen Süden zu ziehen. Der Bauer, dessen Ziegen sie gehütet hatten, brauchte sie nicht länger, da die Tiere nun schlachtreif waren. Sie hatten Glück: Ein Nachbar dieses Bauern fuhr mit seinem Ochsenkarren in ein Dorf, das in ihrer Richtung lag, und sie durften auf dem Karren mitfahren. Sie machten es sich im Heu bequem, verschränkten die Hände hinter dem Kopf und wandten ihre Gesichter dem Himmel zu, über den dicke Wolken zogen. Es war eine friedliche Stimmung. Der Bauer, der den Wagen lenkte, pfiff ein Volkslied vor sich hin, und immer wieder flogen Vögel so dicht über sie hinweg, dass sie nur die Hände hätten ausstrecken müssen, um ihre bunt schillernden Gefieder zu berühren.
»Hättest du je gedacht, dass wir einmal als Landstreicherinnen enden würden?«, fragte Uma ihre alte Kinderfrau.
»Wir enden nicht als Landstreicherinnen. Wir haben einen steinigen Weg beschritten, aber an dessen Ende erwartet uns ein Leben voller Glückseligkeit«, verbesserte Roshni ihre Reisegefährtin.
»Hm.« Umas Glaube an eine bessere Zukunft war nicht so unerschütterlich wie der von Roshni. Schon bald würde sie ein Kind zur Welt bringen, sie würden dann für ein Lebewesen mehr sorgen müssen. Und in den Wochen vor und nach der Niederkunft, wer sollte da die schweren Arbeiten erledigen? Roshni gab sich alle Mühe, aber mit Umas jugendlicher Kraft konnte sie es nicht aufnehmen. Umas Körper hatte sich den neuen Erfordernissen schnell angepasst. Nachdem die ersten Blasen verheilt, die Sonnenbrände abgeklungen und die schweren Muskelkater überstanden waren, fühlte sie sich nun stark wie eine Elefantenkuh. Ihre Hände waren voller Schwielen, ihre Hautfarbe war um einige Töne dunkler als einst, ihr Körper muskulös und biegsam.
»Wenn wir weiter so fleißig arbeiten wie bisher und wenn wir weiter so sparsam leben und jede Paisa sparen, dann haben wir in zwei bis drei Jahren genug beisammen, um uns ein eigenes Häuschen leisten zu können.«
Ja, ja, dachte Uma, mochte ihrer
ayah
jedoch nicht den Spaß an diesem bescheidenen Traum verderben und hielt den Mund. Glückseligkeit? In einer windschiefen Hütte, in der sie, Uma, sich um eine kranke Alte und um ein quengelndes Kind kümmern durfte? Auf einem Acker, den sie allein bearbeiten musste, oder an einem eingetrockneten Flussbett, an dem sie die Wäsche von ihnen dreien waschen musste? An einer Feuerstelle, an der sie …
Plötzlich hörte sie, wie der Bauer jemanden
Weitere Kostenlose Bücher