Der indigoblaue Schleier
Schufterei, desto weniger wurde sie honoriert, dachte Uma. Sie erhielt für die unmenschliche Schinderei, der sie und die anderen Frauen ausgesetzt waren, einen Lohn, der gerade dafür reichte, ein paar Scheffel Reis zu kaufen. Neue Ziegel für das undichte Dach ihres Häuschens, wie sie vor dem Monsun dringend angeschafft werden mussten, waren davon unbezahlbar, genau wie neue Schlafmatten oder Kleider, die nicht schon tausendmal geflickt worden waren. Sie lebten von der Hand in den Mund, obwohl beide von Sonnenaufgang bis zur Abenddämmerung emsig waren.
»Wir könnten versuchen, für abends und nachts noch eine Beschäftigung zu finden«, schlug Uma eines Tages vor. »Vielleicht überlässt uns eine wohlhabende Frau ihre Flickwäsche zum Ausbessern.«
»Wir würden mehr für Kerzenwachs ausgeben, als wir mit der Arbeit verdienen«, warf Roshni ein.
»Aber so kann es doch nicht weitergehen! Mir wackeln schon die Zähne von der kargen Kost.«
Roshni sah ihre geliebte Uma milde an. Sie würde ihr nicht verraten, dass sie selber bereits einen Zahn verloren hatte und dass ihr Haar begann auszufallen. Früher oder später würde Uma es bemerken, doch solange sie einen Schleier über ihr Haupt legte und nicht allzu breit lächelte, würde es nicht auffallen.
»In ein paar Wochen sind die Mangos reif – und davon gibt es hier so viele, dass wir sie essen können, bis wir platzen.«
»Ja, und dann lässt uns der
zamindar
verhaften, weil wir ihn bestohlen haben.«
»Nein, der Grundbesitzer wird überhaupt nichts davon erfahren. Denn Ravindra, sein Pächter, würde es ihm niemals verraten, selbst wenn er uns auf frischer Tat ertappen würde.«
»So, und warum sollte Ravindra so gütig zu uns sein? Er ist hinterhältig, wie sein Schielen ja nur allzu deutlich zeigt. Mit einem Auge schaut er auf uns, mit dem anderen auf den
zamindar.
Und wer ist ihm wohl auf Dauer nützlicher?«
»Wir! Ich habe Ravindra zu verstehen gegeben, dass wir über geheime Zauberkräfte verfügen, die nicht nur seine Augen heilen, sondern auch seine Manneskraft steigern können.«
»Nayana!« Vor Schreck war Uma zum ersten Mal seit langem wieder der alte Name ihrer treuen Gefährtin entschlüpft. »Roshni«, korrigierte sie sich, »wie konntest du nur? Die Leute werden uns noch mehr meiden als ohnehin schon. Außerdem hat Ravindra bereits sechzehn Kinder.«
»Und wenn schon. Was ihre Zeugungskraft betrifft, sind die Männer unersättlich.« Roshni schlug die Hand vor den Mund. Ihre freizügige Rede schockierte sie selbst. Was war nur aus ihr geworden? Ein boshaftes, heimtückisches altes Weib, das dem kleinen Engel an seiner Seite ganz und gar nicht als Vorbild diente.
Uma hielt sich ebenfalls die Hand vor den Mund – um ihr Lachen zurückzuhalten. »Ach Roshni, wende doch deine Zauberkunst an, um Ravindras Manneskraft versiegen zu lassen …«
Doch trotz Umas Frotzeleien sollte der Kniff sich noch als nützlich erweisen. Zwar hielten in der Tat einige Leute einen größeren Abstand zu Uma, doch sie hatte den Eindruck, dass es aus Respekt vor ihren angeblichen magischen Kräften geschah. Roshni hatte ihr mit einem angekohlten Stück Holz die Lider schwarz umrahmt, wodurch Umas grüne Augen nur noch mehr leuchteten. Warum, so fragte sie sich, hatten sie das nicht schon eher getan? Im Norden war ihre Augenfarbe nichts Besonderes gewesen, aber hier im Süden war sie so selten, dass die abergläubische Landbevölkerung darin eine Gnade der Götter sah. Leider sahen die Männer in dem funkelnden Blick Umas eine Leidenschaft, die sie nicht empfand, und eine Glut, die nie entfacht worden war.
Auf der Indigoplantage kam es zu Eifersüchteleien. Uma habe ihren Sohn verhext, behauptete eine verschrumpelte Alte; sie wolle ihr den Verehrer ausspannen, meinte ein molliges Mädchen mit dem breiten Kreuz eines Ringers. Nun, da erst durch die kleine kosmetische Maßnahme Umas Schönheit wahrgenommen wurde, und nicht nur die ihrer Augen, wurde sie zum Ziel aller neidischen Bemerkungen der Frauen und Mädchen, die nicht mit Anmut gesegnet waren.
Dem Aufseher blieb das Gekeife der Frauen nicht verborgen. Eines Tages rief er Uma zu sich.
»Du sorgst für Unmut unter den Arbeiterinnen. Du kannst nicht länger hierbleiben.«
»Aber Herr! So habt Erbarmen! Ihr wisst doch, dass ich mit meiner armen alten Schwiegermutter nur dank Eurer Gnade, mich hier arbeiten zu lassen, über die Runden komme. Was soll aus uns werden?«
»Das ist nicht meine Sorge.
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