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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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und ließ diesen seines Weges ziehen. Miguel verspürte nicht das geringste Verlangen, ihn in das Elendsquartier zu begleiten, wo die Seuche gewiss noch mehr Opfer forderte als im Zentrum der Stadt.
    Das Kontorhaus war geschlossen. Miguel ritt weiter zum Wohnhaus des Prokuristen. Es wirkte ebenfalls verwaist. Er klopfte energisch an die Tür, bis ihm endlich ein Diener öffnete. »Senhor Miguel!«, rief er überrascht. »Seid Ihr des Wahnsinns, verlasst diese Stadt des Todes! Alle, die die Möglichkeit dazu hatten, haben sich gerettet. Auch meine Herrschaft.«
    »Und dich haben sie hier zurückgelassen?«
    »Jawohl, Senhor, ich wollte meine arme Frau nicht im Stich lassen, die schwer erkrankt ist. Und einer muss sich ja auch um das Haus kümmern, denn die Plünderer lauern an jeder Ecke.«
    »Wohin sind sie denn gegangen, der Senhor Furtado und seine hochgeschätzte Gemahlin?«
    »Sie haben Familie an der Küste. Am Meer ist die Luft nicht so verseucht, die Krankheitsfälle sind dort sehr selten.«
    Miguel dankte für die Auskunft und zog von dannen. Viele Leute kannte er nicht gerade in Portugiesisch-Indien, fiel ihm jetzt auf. Dona Amba wäre auf der anderen Seite des Flusses wahrscheinlich sicher vor der Seuche. Die Mendonças waren, Gott sei Dank, fort. Die entfernteren Bekannten, etwa die Familie des Capitão Almeida de Assis oder die Familie Nunes, lebten, wenn er sich recht erinnerte, in Küstennähe. Carlos Alberto konnte von ihm aus verrecken, dem würde er nicht einmal einen Becher Wasser reichen, wenn er ihn auf Knien anflehte. Und sonst? Der Juwelier hatte seinen Laden ganz in der Nähe, dort konnte er kurz vorbeischauen.
    Senhor Rui öffnete ihm nach mehrmaligem Klopfen die Tür. Er sah furchterregend aus, verhärmt und abgemagert. Er wirkte fiebrig, mit seinen glasigen Augen und der gekrümmten Haltung, die auf große Schwäche schließen ließ.
    »Geht, Senhor Miguel, rettet Euch. Diese Stadt ist dem Untergang geweiht«, brachte der Inder hervor. Dann verschloss er die Tür von innen und ließ seinen Besucher im Regen stehen.
    Miguel, der weder eine Schänke aufsuchen noch weitere Besuche machen wollte, begab sich gleich in die Kathedrale, in der er mit seinem Dienstboten verabredet war. Crisóstomo würde sicher noch etwas länger brauchen, und Miguel dachte, er könne die Zeit auch zu einer Andacht nutzen. Er war schon lange nicht mehr in der Kirche gewesen. Doch was ihn im Innern der Kathedrale erwartete, war noch entsetzlicher als das, was sich auf den Straßen abspielte. Es sah aus wie in einem riesigen, völlig überfüllten Lazarett. Auf allen Bänken lagen Kranke, auf dem Boden, der von Unrat übersät war, krabbelten Kleinkinder, die nichts mehr von ihrer wonnigen Drallheit besaßen. Ihre Gesichtchen waren ebenso eingefallen und vertrocknet wie die der Erwachsenen. Scheußliche Seufzer und Schluchzer hallten durch das Gotteshaus. Ein Mönch schwenkte eine Weihrauchlampe, um der gefährlichen Dünste und des üblen Geruchs Herr zu werden, aber vergeblich. Miguel verließ den Ort des Schreckens schnell wieder.
    Er wanderte rastlos um die Kirche herum, nur um an ihrer Rückseite einen grauenhaften Leichenberg vorzufinden. Er musste würgen und presste sich sein Taschentuch noch dichter vor die Nase. Schade, dass es nicht stärker parfümiert war. Als er wieder am vorderen Portal der Kirche angelangt war, sah er schon von weitem Crisóstomo, der im Laufschritt auf ihn zukam. Als er sich näherte, erkannte Miguel, dass der Junge tränenüberströmt war. Er konnte sich denken, was geschehen war.
    Crisóstomo bekam vor lauter Schluchzen kein vernünftiges Wort heraus. Schließlich gelang es Miguel, dem Gestammel zu entnehmen, dass Crisóstomos kleiner Bruder der Seuche erlegen war, genau wie seine Mutter und weitere drei Geschwister. Sein Vater hatte den Jungen gedrängt, nicht mehr bis zur Einäscherung der Leichname dazubleiben, sondern sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.
    Als sie fluchtartig die Stadt verließen, meinte Miguel den Burschen, der auf dem Pferd hinter ihm saß und ohne Unterlass weinte, schniefen zu hören: »Wie sollen sie denn brennen, bei dem Regen?« Die Vorstellung von Bestattungsfeuern, auf denen die Kadaver nicht in Flammen aufgingen, sondern ganz langsam geschmort wurden, verursachte Miguel mehr Übelkeit als alles andere, was er heute gesehen hatte.
    Mitten im Wald hielt er an und erbrach sich.

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    D ie Seuche war eine Prüfung des Herrn. Der

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