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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Allmächtige hatte sie auf die Erde gesandt, um dem sittenlosen Treiben Einhalt zu gebieten und all jene zu strafen, die unkeusch gewesen waren, die gestohlen und betrogen hatten, die alle Gebote der Heiligen Schrift missachtet und sich damit den Zorn Gottes zugezogen hatten. So lautete die Deutung der Kirche. Die Cholera würde die Sünder heimsuchen und die guten Menschen verschonen. Wer frei von Schuld sei, der müsse auf Gott vertrauen und beten, dann würde er die Heimsuchung unbeschadet überstehen.
    Die junge Maria Florinda Nunes de Sousa, jungvermählt und im zweiten Monat schwanger, saß in der Kirche und lauschte der Predigt von Frei Martinho mit gemischten Gefühlen. Die Tatsachen gaben dem Geistlichen recht: Die in seinen Augen »guten« Menschen, also die meisten wohlhabenden Portugiesen, hatten sich frühzeitig in Sicherheit gebracht und blieben gesund. Auch unter den Mönchen war die Zahl der Opfer nicht so hoch wie unter den ärmsten Bewohnern der Stadt. Aber lag es nicht vielmehr daran, dass die Kirchenmänner sich an ihrem Wein gütlich taten und nicht die stinkende Brühe trinken mussten, die durch die Elendsviertel floss? Und wie wollte man erklären, dass unzählige Kinder, auch Neugeborene, die zweifelsohne frei von Sünde waren, dahingerafft wurden? Und wie »gut« waren Priester, Ärzte, Apotheker, Heilkundige und Trostspender aller Art, wenn sie in der Stunde der Not nicht zur Stelle waren, sondern lieber das Weite gesucht hatten? War das etwa ein leuchtendes Beispiel für christliche Nächstenliebe?
    Im Westen von Goa, direkt an der Mündung des Mandovi-Flusses und kaum einen halbstündigen Fußmarsch von der Arabischen See entfernt, entstand eine neue Siedlung rund um die prachtvolle Kirche Nossa Senhora da Imaculada Conceição. Diese Kirche, auf einer Anhöhe gelegen und über eine wunderschöne, im Zickzack ansteigende Treppe zu erreichen, bot einen herrlichen Blick auf das Meer sowie auf das Flussdelta. Sie war 1619 errichtet worden und mit ihrem jugendlichen Alter von 15  Jahren eines der schönsten Gotteshäuser der Kolonie. Dort, wo das Wasser nicht verseucht und die Luft rein war, wurde nun emsig gebaut. Wer es sich leisten konnte, erwarb in dieser Siedlung, Pangim, Land. Denn die Gerüchte, die Hauptstadt Goas sei dem Untergang geweiht, wurden immer lauter.
    Maria wäre auch gerne dorthin gezogen. Doch als Christin, die ihren Glauben und ihre Pflichten ernst nahm, fand sie, dass sie den Schwachen und Kranken beistehen musste. Es war nicht die erste Cholera-Epidemie, die sie erlebte, aber es war die mit Abstand schwerste. Der Verwesungsgeruch, der durch die Straßen zog, verlangte ihr alles an Selbstbeherrschung ab. Als unermüdliche Sammlerin von Hilfsgeldern war Maria schlimme Anblicke und Gerüche gewohnt, denn manchmal schaute sie im Waisenhaus und im Hospital vorbei, um sich selbst davon zu überzeugen, woran es mangelte oder wie die Spenden verwendet wurden. Aber das, was nun in Goa stattfand, überstieg die grauenhaftesten Vorstellungen.
    Sie hatte sich natürlich gefragt, ob sie es dem Kind, das sie unter dem Herzen trug, schuldig war, von diesem Ort des Schreckens fortzugehen. Doch dann überwog ihr Pflichtgefühl. Dona Assunção, eine der standhaftesten und zupackendsten Frauen, die sie kannte, war nicht mehr im Lande. Umso mehr war ihre eigene tatkräftige Unterstützung gefragt. Wo sollte das hinführen, wenn alle, die stark und gesund waren, flohen? Man konnte doch nicht einfach all die armen kranken Kinder auf den schlammigen Straßen ihrem Schicksal überlassen!
    »Wir müssen dieses Unkraut ausrupfen, mit Stumpf und Stiel!«, hörte Maria nun den Frei Martinho auf der Kanzel donnern. »Sie huldigen weiterhin heimlich einem Panoptikum an Göttern, darunter auch solchen, denen sie Menschenopfer bringen. Feige, wie sie sind, heucheln diese Barbaren Gehorsam, vergiften uns Christenmenschen aber mit ihrem qualvoll langsam wirkenden Gift. Eine Rebellion findet statt in diesem Land, jawohl, ein leiser, aber nichtsdestoweniger mächtiger Aufstand der Heiden, die es sich zum Ziel gemacht haben, unsere Gesellschaft von innen heraus zu zersetzen. Einer, der es besonders weit getrieben hat, weil er sein schändliches Tun als Hilfe tarnte, wo es ihm doch nur um Profit ging, wird heute auf dem Hauptplatz vor der Kathedrale hingerichtet, und ich muss euch allen dringend ans Herz legen, euch dem unschönen Anblick zu stellen.«
    Maria kannte den Fall. Ein indischer Apotheker, der

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