Der indigoblaue Schleier
leibhaftigen Inder, mit dem sie gesprochen hatte, und dann, welche Überraschung, gleich ein so kultivierter Herr! – und stieg wohlgemut in die Kutsche. Wie »rumpelig« mochte die Fahrt schon werden? Nach ihrer Schiffsreise würde sie überhaupt nichts mehr schrecken.
Als sie aus der Stadt hinausfuhren, frischte der Wind auf, und der Regen peitschte waagerecht in die Fenster ihres Gefährts hinein. Tropenschwüle? Es fühlte sich mehr nach einem Winter in Tras-os-Montes an! Die Queiroz quengelten, sie solle die Vorhänge vor den Fenstern befestigen und so für ein Minimum an Schutz vor dem garstigen Wetter sorgen. Aber Isabel dachte gar nicht daran. Nie wieder würde sie ein erstes Mal durch diese Straßen fahren, nie wieder würde sie die Gelegenheit zu einem ersten Eindruck bekommen: Sie wollte keinen Augenblick davon verpassen, ganz gleich, wie scheußlich die Umstände waren.
Fasziniert beobachtete sie die wenigen Menschen, die sich überhaupt ins Freie gewagt hatten. Sie sah zwei Inder, die überaus farbenfroh und prachtvoll gekleidet waren, ganz wie sie es aus den Stichen in der heimischen Bibliothek kannte. Wäre nur das Wetter schöner gewesen, dann hätten ihre hellblauen und silbernen Röcke nicht so traurig an ihnen heruntergehangen, ihre mächtigen Schnurrbärte, die an den Enden zusammengezwirbelt waren, hätten in der Sonne geglänzt, und sie hätten die Köpfe unter der Last ihrer durchnässten roten Turbane nicht senken müssen. Natürlich konnte Isabel nicht wissen, dass Pradeep und Chandra sich fein herausgeputzt hatten, um dem hochwohlgeborenen Herrn mit dem unaussprechlichen Namen einen letzten Besuch abzustatten, und dass sie nun sehr wütend waren, weil ihr Baldachinträger sie im Stich gelassen hatte. Der Kerl war einfach gestorben.
Isabel sah Inderinnen, die einmal sehr hübsch gewesen sein mussten, mit verhärmten Gesichtern und sterbenden Kindern auf dem Arm. Die vermeintlich unsittlichen Saris, die den Bauch freiließen, wirkten an ihnen alles andere als unkeusch. Sie sah Leute, die am Wegesrand kauerten und sich erleichterten, und sie sah Herumtreiber, die Steine nach streunenden Hunden warfen, die sich kaum schlechter benahmen als diese Lümmel selber. Hunde wie Menschen stöberten im Unrat und lungerten vor den Häusern herum, die von wohlhabenderen Menschen bewohnt zu sein schienen. Dort erhofften sie sich vielleicht milde Gaben.
»Es riecht ganz erbärmlich«, beklagte sich Dona Juliana, »also schließt doch bitte die Vorhänge, liebes Kind.«
»Und zu sehen gibt es auch nichts außer Schmutz«, ergänzte Senhor Afonso.
Die beiden hatten recht, musste Isabel sich eingestehen. Sie zog die Vorhänge zu und klemmte sie fest, was den Geruch von draußen natürlich nicht wirklich davon abhielt, ins Innere zu dringen. Sie lehnte sich erschöpft zurück. Ihre Aufregung hatte sie vorübergehend davon abgelenkt, wie müde sie war. Auch ihr hatte die Seereise zu schaffen gemacht. Dabei waren die körperlichen Begleiterscheinungen weitaus weniger schwerwiegend gewesen als die seelischen. Isabel war weder seekrank geworden, noch hatte der Mangel an Frischwasser oder an frischem Obst und Gemüse sie sonderlich mitgenommen. Aber die permanente Angst, hinter der nächsten Welle liege der Tod, hatte doch an ihr genagt. Es waren Wogen gewesen, wie sie sie zuvor ebenfalls nur auf den Stichen in der Bibliothek gesehen und für maßlose Übertreibungen des Künstlers gehalten hatte. Sie waren hoch wie die Sé, die Kathedrale in Lissabon, gewesen, ebenso düster und tausendmal furchteinflößender als die Predigten des dortigen Bischofs.
Sie schlief mit offenem Mund ein und sackte mit dem Kopf immer näher an die Schulter Dona Julianas. Ein heftiger Ruck riss sie aus ihrem Dösen. Sie wischte sich unauffällig den Speichel aus dem Mundwinkel und hoffte, dass nichts davon auf Dona Julianas Kleid gelandet war. Dann zog sie den Vorhang wieder beiseite, um zu schauen, was diesen Ruck ausgelöst hatte. Abermals rumpelte und rappelte es, beinahe wäre Isabel mit der Stirn an den Fensterrahmen geprallt. Inzwischen war die Gegend ländlicher geworden. Vereinzelt sah man armselige Hütten, vor denen Feuerchen schwelten. Sie sah Wasserbüffel, auf denen Vögel herumstaksten, und überflutete Felder, die wohl Reisfelder sein mussten. Und sie sah, dass die »Straße« eine einzige Schlammpiste war. Unter all dem Matsch konnte ihr Fahrer natürlich nicht erkennen, wo abgebrochene Äste lagen oder wo sich
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