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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Morgendämmerung herauf, und es klopfte an ihre Tür.
    »Die Erste ist schon da«, hauchte ihre jüngste Schwägerin, voller Ehrfurcht ob der Heiligkeit, die von Bhavani demnächst Besitz ergreifen würde.
    »Lass sie ein«, kam es matt von der jungen Witwe zurück.
    Es galt unter den Frauen der Stadt als gesichert, dass eine Berührung von der Hand der
sati
Glück und Segen brachte. Und so standen sie nun Schlange vor dem Haus, Alte und Junge, Schöne und Entstellte, Feine und Derbe, Arme und Reiche, in schönster Eintracht vereint in dem Glauben, dass sich ihr Los durch das Handauflegen der
sati
verbessern müsse – eine endlose Prozession an gequälten Seelen, ein nicht versiegender Strom gedemütigter Geister und geschundener Körper. Bhavani hatte Wert darauf gelegt, dass auch die Ärmsten und Elendesten sie besuchen durften, was zunächst für Empörung im Haus gesorgt hatte, später jedoch gebilligt wurde. Immerhin wurde dadurch der Ruf Bhavanis als der einer gütigen Dame voll des Mitleids gefestigt, wodurch alle Mitglieder der Familie an Ansehen gewannen.
    Manche der Frauen erwarteten sehr viel von Bhavani, aber sie hatte nicht das Herz, ihre letzten Hoffnungen zu zerschlagen, und ging auf ihre Wünsche ein. »Mach, dass ich einen Sohn gebäre«, forderte eine, und Bhavani murmelte eine »Zauberformel«, die die Augen der armen Frau aufleuchten ließ. »Hilf mir, die Schikanen meiner Schwiegermutter zu ertragen«, bat eine andere und »Lass meinen Klumpfuß verschwinden« gar eine dritte. So ging es bis zum frühen Nachmittag. Dann wurde niemand mehr vorgelassen.
    Man gönnte Bhavani eine Stunde Ruhe, bevor Nayana in deren Schlafgemach vorgelassen wurde, um ihren Schützling auf dem Weg zum Scheiterhaufen zu stützen. Doch die alte Kinderfrau kam sofort wieder herausgestürzt. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet, und ihre Stimme überschlug sich, als sie rief: »Man hat sie entführt! Man hat unsere gute
Bhavani-sati
entführt!«
    Die Schwägerinnen rannten in den Raum und blieben wie angewurzelt stehen, als sie erkannten, was passiert war: Eine zahnlose Bettlerin lag leise schnarchend auf Bhavanis Schlafmatte. Sie trug einen kostbaren Sari und verströmte den unverkennbaren Geruch von Feni. Die Alte war sturzbetrunken.
    In der Zeit, in der die Schwägerinnen beratschlagten, was zu tun und wer zu verständigen sei, huschte Nayana unbemerkt aus dem Haus. Sie schnappte sich das Bündel, das sie in dem dichten Grün des Ashokabaums versteckt hatte, wickelte sich in ein verschmutztes Gewand und humpelte, plötzlich in eine unscheinbare Bettlerin verwandelt, zu dem ausgemachten Treffpunkt.
    In der Stadt sorgte die Nachricht vom Verschwinden der
sati
für Aufruhr. Niemand nahm Notiz von den beiden zerlumpten Gestalten, die sich bei Einbruch der Nacht auf den Weg gen Westen machten.

[home]
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    D er Osten – in welch glorreichen Worten hatte man ihn ihr angekündigt! Reich und sinnlich sei er, voller Geheimnisse und Verheißungen. Doch ihr erster Eindruck des Orients war ein anderer: Er war die Hölle auf Erden.
    Isabel de Matos wusste, dass ihre Wahrnehmung getrübt war durch die Strapazen der grässlichen Schiffsreise. Es hatte zahlreiche Verzögerungen gegeben. Erst hatten sie in Angola an der afrikanischen Westküste einen unerwartet langen Halt einlegen müssen, weil die frischen Lebensmittel, die hier an Bord genommen werden sollten, vom Hafenkai weg gestohlen worden waren. Bis man neuen Proviant zusammengestellt hatte, vergingen zwei Wochen. Danach umfuhren sie einigermaßen störungsfrei
Cabo da Boa Esperança,
das Kap der Guten Hoffnung, mussten aber kurz darauf die
Ilha de Moçambique
anlaufen, ein in der Straße von Mosambik zwischen der Ostküste des afrikanischen Festlandes und Madagaskar gelegenes Inselchen. Ein Schaden am Rumpf der Galeone musste repariert werden, und was in Lissabon nur wenige Stunden in Anspruch genommen hätte, dauerte hier drei Wochen. Als sie endlich weiterfuhren, war ihre Verspätung bereits so groß, dass sie Indien mitten im Monsun erreichen würden.
    Der Kapitän hatte gewusst, dass die Bedingungen schwierig werden würden. Er hatte seine Passagiere vor die Wahl gestellt. Sie konnten im portugiesisch beherrschten Mosambik bleiben und Monate später, wenn die Gefahr der Tropenstürme gebannt war, weiterreisen. Oder sie konnten mit ihm die Fahrt wagen, die unbequem werden würde, sie aber schnell und sicher ans Ziel brächte, da sein Schiff praktisch unzerstörbar war.

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