Der indigoblaue Schleier
befördert wurde, dann wäre er noch am Leben. Ach, wäre sie doch bloß fortgegangen! Hätte sie ihm doch nur eine junge Frau gegönnt, deren Schoß fruchtbarer als ihr eigener war! Aber sie konnte ihre Schuld gegenüber Arun ja wiedergutmachen: Durch die Verbrennung würden all ihre Unzulänglichkeiten als Ehefrau aufgehoben, würden ihre Verfehlungen ihr vergeben werden. Ja, stolz und mit Freuden würde sie auf den Scheiterhaufen steigen, Aruns Leichnam in den Armen wiegen und gemeinsam mit ihm vom Feuer hinfortgetragen werden in eine Zukunft, in der sie als besserer Mensch wiedergeboren werden würde.
Normalerweise wurde der Leichnam einer Person einen Tag nach deren Ableben verbrannt. Da der Transport der Leiche von der Grenze zurück in seine Heimatstadt jedoch einige Tage länger benötigte als die Botschaft von seinem Tod, gewann Bhavani ein wenig Zeit, um sich zu fassen. Als der erste Schock verwunden war und die erste Welle an Selbstvorwürfen abebbte, regte sich ihr Verstand – und ihr Überlebensinstinkt. War sie des Wahnsinns? Wem brachte ihr Tod etwas? Doch nur Aruns Vater und Brüdern, denn die würden sich ihre Mitgift schneller unter den Nagel reißen, als ihre Asche brauchte, um zu erkalten. Arun wurde von ihrer Selbstverbrennung nicht wieder lebendig, und sie selber verspürte keinerlei Lust, so jung und so qualvoll zu sterben, ganz gleich, wie freudlos das Leben als Witwe war, das ihrer harrte. Oh nein, sie wollte keine
sati
werden!
Ihre Anverwandtschaft hatte jedoch bereits, noch bevor Bhavani selber eine Entscheidung getroffen hatte, bekanntgegeben, Bhavani wolle Arun in den Tod folgen. Die Nachricht von der anstehenden Witwenverbrennung hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Aus allen Dörfern der Umgebung kamen die Menschen, um Zeugen dieses heiligen Spektakels zu werden. Allzu oft geschah es schließlich nicht, dass eine schöne junge Frau diesen ehrenvollen Tod wählte. Meist waren es alte Weiber, die sich lieber schnell von den Flammen als langsam von schweren Krankheiten zerfressen ließen.
Die Stimmung in der Stadt ähnelte der während des Holi-Festes. Die Leute waren in erwartungsfroher Laune, fliegende Händler machten das Geschäft ihres Lebens, weil sie ihr Sortiment dem Ereignis angepasst hatten und nun statt Teigklößchen lieber Früchte feilboten, die sich als
prasad
eigneten, als Opfergabe im Tempel. Andere verkauften Amulette, die Glück versprachen, und Halbedelsteine, die den bösen Blick abwendeten. Vor den Tempeln warteten jede Menge selbsternannte Friseure, die jenen Frauen, die ihr Haar opfern wollten, bereitwillig mit ihren Schneidegeräten zur Verfügung standen, und Verkäufer aller möglichen bunten Pulver und Pasten drängten sich neben solchen, die Blütenkränze flochten und sie zum doppelten als dem üblichen Preis verkauften.
Bhavani nahm von alldem mehr wahr, als sie ihre angeheiratete Familie glauben machte. Den ganzen Tag waren ihre Schwägerinnen mit übelriechenden Tränken in ihr Zimmer gekommen, die, wie Bhavani wusste, Rauschmittel enthielten. Mitfühlend, wie die anderen Frauen waren, wollten sie der Witwe den Weg in den Tod so leicht wie möglich machen. Bhavani hatte all diese Gebräue aus dem Fenster gekippt. Dann hatte sie, eine leichte Benommenheit vortäuschend, Nayana unter dem Vorwand in ihr Gemach gerufen, sie wolle sich einzig von ihrer alten
ayah
bei den intimeren der vorgeschriebenen Reinigungsrituale behilflich sein lassen. Doch kaum war Nayana eingetreten, zog Bhavani sie zu sich heran und flüsterte ihr aufgeregt die Aufgaben ins Ohr, die die Kinderfrau für sie erledigen musste.
»Hast du das alles verstanden?«, fragte Bhavani scharf.
Nayana bejahte schicksalsergeben. Sie verurteilte den Plan, den Bhavani ausgeheckt hatte – aber sie wusste, dass sie nicht die Kraft hatte, sich ihr zu widersetzen. Ihrer beider Schicksale waren auf immer, im Guten wie im Schlechten, miteinander verwoben.
In der Nacht vor dem großen Tag schlief Bhavani nicht. Pausenlos wälzte sie Gedanken, wog Vor- und Nachteile ihres Plans gegeneinander ab, verdrängte hässliche Zweifel und spann schöne Zukunftsträume. Immer wieder schlich sich Aruns hübsches Gesicht dazwischen. Mal sah sie es, wie es sie angestrahlt hatte, am Tag, an dem sie Arun von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte, mal sah sie eine scheußliche Fratze, ein von Todesqualen verzerrtes und von Maden zerstörtes Antlitz, das ihr wie ein böses Omen erschien.
Dann zog die
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