Der indigoblaue Schleier
versunken war, begann der Teil des Spektakels, den Miguel noch malerischer als den eigentlichen Sonnenuntergang fand. Wenn die Wolken von unten angestrahlt und in magische Rot-, Orange- und Violetttöne getaucht wurden, überkam ihn jedes Mal eine seltsam friedvolle Stimmung. Der Himmel schien dann weiter zu sein als sonst und er selbst kleiner und unbedeutender. Es war ein Moment, der die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes ins rechte Licht rückte, ein paar Minuten, die einen Einblick in die Unendlichkeit des Universums gewährten und die Alltagssorgen klein erscheinen ließen. So ging es ihm auch jetzt, und er war froh, dass Amba den Zauber nicht durch Reden zerstörte.
Die Vögel in den Bäumen gaben ein lautes Konzert, aus der Ferne hörte man das Läuten von Viehglocken. Eine Ziegenherde wurde heimgetrieben. Der Wind wehte sanft und brachte den kaum wahrnehmbaren Duft von Rauch mit sich, den Miguel so sehr mit Indien verband. Immer und überall fanden sich die kleinen Feuerstellen, und sogar hier, in der vermeintlichen Abgeschiedenheit, schien die nächste Siedlung nicht fern zu sein. Vielleicht waren es auch Menschen, die aus der choleraverseuchten Stadt geflüchtet waren und nun hier draußen um ihr Überleben kämpfen mussten, dachte Miguel, denn von einem abgelegenen Bauernhaus oder gar einem Dorf in der Nähe war ihm nichts bekannt.
Als das Licht nachließ und das Farbenspektakel am Himmel an Intensität verlor, wandte Miguel sich Amba zu: »Du hast mir gefehlt.«
»Du mir auch«, erwiderte sie und schob wie selbstverständlich ihren Schleier hoch.
Miguel stockte für einen Augenblick der Atem. »Wirst du den Ring behalten?«, fragte er dann. Er wusste, dass Amba ihn ursprünglich hatte aufsuchen wollen, um das Geschenk zurückzugeben.
»Willst du das denn? Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, was du mir angetragen hast?«
»Die Ehe. Trenn dich von deinem Mann, Amba. Und dann lass uns ein gemeinsames Leben beginnen.«
»Wir kennen uns kaum.«
»Wir werden uns besser kennenlernen. Und alles Wesentliche wissen wir doch schon voneinander, oder nicht? Kanntest du deinen Gemahl etwa besser als mich, als du ihn geheiratet hast?«
»Er war Inder«, stellte Amba fest.
»War?« Miguel schaute sie fragend an.
Amba wich der Frage aus. »Menschen mit ähnlichem Hintergrund, von ähnlicher Herkunft harmonieren nun einmal besser miteinander.«
»Woher willst du das wissen? Die Mischehen, von denen es hier in Goa ja viele gibt, funktionieren doch, wie’s scheint, genauso gut oder schlecht wie die anderen. Außerdem: Ist Harmonie denn so wünschenswert?«
Amba lachte. »Du hast recht. Allzu große Harmonie ist zum Sterben langweilig.«
Miguel hatte inzwischen den Arm um Amba gelegt und zog diese nun näher zu sich heran. Ihre Schultern fühlten sich unter seiner Umarmung schmächtig und fragil an. Er hatte ihr das Gesicht zugewandt, was sie aus den Augenwinkeln sehen musste, doch sie blickte weiter geradeaus und fixierte einen Punkt in der Ferne. Sie hatte Angst vor dem, was passieren würde, wenn sie sich zu ihm hindrehte. Gleichzeitig sehnte sie sich danach. Sie wollte seine Küsse auf ihrer Haut fühlen, wollte fest an seine breite Brust gedrückt werden, wollte seine Kraft auf sich übergehen spüren. Sie wollte ein einziges Mal schwach sein dürfen.
»Sieh mich an«, forderte Miguel sie auf.
Langsam wandte sie ihr Gesicht dem seinen zu.
Ihre Blicke versanken ineinander. Amba sah goldene Fünkchen in seinen dunkelbraunen Augen, sie sah die glänzenden schwarzen Wimpern sich leicht herabsenken und sah jedes einzelne Lachfältchen. Er blinzelte, und in diesem einzigen Lidschlag lag so viel Verheißung, dass ihr heiß wurde. Miguel empfand die Magie des Augenblicks ähnlich. Das Grün ihrer Augen hatte in dem spärlicher werdenden Licht noch immer sein mysteriöses Funkeln, das ihn in seinen Bann zog. Ambas hellbraune Haut schimmerte in dem Abendlicht wie Seide, ihre Lippen waren ganz leicht geöffnet, so als hole sie gerade Luft, um ihm etwas zu sagen. Er ließ es nicht so weit kommen.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung zog er Amba zu sich heran und beugte seinen Kopf nach vorn. Mit halb geöffneten Lidern versank er in einem Kuss, der süßer schmeckte als alles, was er je gekostet hatte. Ihre Lippen waren weich und willig. Sie erwiderte den Kuss hingebungsvoll, und hatte sie ihn je abweisen wollen, so sprachen ihre Zärtlichkeiten eine andere Sprache. Sie drückte sich an ihn, schob ihre
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